Prof. Dr. Carl-A. Keller
* 02.08.1920, † 07.04.2008
Professor für Altes Testament
später für Religionswissenschaft
an der Universität Lausanne

Christliche Mystik und Mystik der Religionen

Inwiefern sind sie vergleichbar, inwiefern sind sie nicht vergleichbar ?

Vortrag gehalten in Karlsruhe, 21. März 1998

Inwiefern sind die Formen mystischer Religiosität in verschiedenen religiösen Traditionen vergleichbar ? – Ich werde vier Ebenen der Vergleichbarkeit behandeln. Formen mystischer Religiosität sind vergleichbar :

1. Mystische Religiosität besteht im Begehen eines Weges.

So wird mystische Religiosität in allen Religionen verstanden. Im Christentum wird sie beschrieben als eine Anzahl von viae, von "Wegen" (vor allem drei : purificatio, illuminatio, unio), die man nach einem bestimmten itinerarium, einer klaren Wegbeschreibung, begehen soll. Der islamische Mystiker, der Sufi, folgt einem ṭarīq bzw. einer ṭarīqa, was ebenfalls "Weg" heisst. Und in Indien spricht man von verschiedenen mārga, eigentlich "Wildfährten", das heisst von vorgezeichneten "Wegen", die nach allgemeiner Überzeugung zum Ziel führen. Die Wegmetapher findet sich überall. Als Wege sind die verschiedenen Formen von mystischer Religiosität vergleichbar.

Der Mystiker jeder Religion ist ein Wegschreiter. Er befindet sich auf einem Wege. Dieser Weg ist ihm vorgezeichnet. Es ist wichtig, dies gleich zu Beginn festzuhalten. Der Mystiker ist nicht einer, der in erhabenen, "mystischen" Gefühlen schwelgt. Er schreitet. Er weiss, woher er kommt, wo er jetzt steht und wohin er geht. In der mystischen Religiosität liegt eine Art Rationalität. Sie ist nie etwas Verschwommenes.

Das Beschreiten eines mystischen Weges impliziert mancherlei Notwendigkeiten. Vor allem ist beim mystischen Schreiten der ganze Mensch beteiligt, Körper und Innerlichkeit, ja auch die soziale Umgebung des Mystikers. Was zunächst die äussere Lebensführung betrifft, so enthalten alle mystischen Wege ausführliche ethische Instruktionen. Der traditionelle christliche Weg beginnt mit dem Streben nach moralischer Vollkommenheit. Der sufische Weg enthält ausführliche Überlegungen und Vorschriften zum ʾadab, zu edlem Benehmen. Er will zu "männlicher Tugend", zu "edler Männlichkeit" anleiten, zu futuwwa oder muruwwa (auch murūʾa). Die indischen Wege fordern Einfügung in das ethisch bestimmte soziale Gefüge. Diese ethischen Inhalte der mystischen Wege können ohne weiteres miteinander verglichen werden : wie weit sind sie identisch oder ähnlich, wie weit sind sie je spezifisch ?

Es ist indessen vor allem die Innerlichkeit – die Seele, der Geist – die auf dem Wege fortschreitet. Dieses Schreiten wird gern verstanden als stufenweises Aufsteigen zu innerer Vollkommenheit. Im Sufismus erscheinen die Stufen als "Herbergen" oder "Halteplätze" auf der mystischen Reise. Ihre Zahl ist bei weitem nicht bei allen sufischen Meistern dieselbe, auch nicht ihre Reihenfolge. Immer aber handelt es sich um innere Haltungen : Umkehr, Geduld, Demut, Furcht, Hoffnung, Vertrauen, Liebe zu Gott, Erkennen, Verwirrtsein usw. – Im griechischen Christentum werden diese Stufen im Anschluss an Gn. 28 auf einer Leiter angeordnet, wobei auch hier ganz unterschiedlich vorgegangen wird. In der berühmtesten "Leiter", derjenigen des Johannes Klimakos (6./7. Jh.), steht etwa die Demut ganz zuunterst und das "reine geistige Gebet" weit oben, während beim orthodoxen Mönch Theophanes das "reine Gebet" an den Anfang gesetzt ist, gefolgt von "Herzenswärme", "Wirkungen des Heiligen Geistes" usw., bis zu "Herzensreinheit" und "Vollkommenheit". – In der indischen bhakti, der "liebenden Teilnahme am göttlichen Leben" werden ebenfalls mehrere Stufen unterschieden, z. B. Liebe als völlige Abhängigkeit von der Gottheit – Liebe als inneres Erleben der Gemeinschaft mit der Gottheit (bhāva) – Liebe als völliges Einssein mit der Gottheit (prema).

Diese Sufen der inneren Vollkommenheit können selbstverständlich miteinander verglichen werden, sowohl was die Charakterisierung jeder einzelnen Stufe betrifft, als auch ihre verschiedenen Anordnungen, deren Sinn und Sachgemässheit, wobei etwa auch Lücken und Besonderheiten zur Sprache kommen mögen.

2. Die Grunderwartungen der Mystiker können verglichen werden.

Die Grundeinstellung der Mystiker ist in allen Traditionen dieselbe, nämlich Wille und Bereitschaft, das Ich zugunsten der letztgültigen Wirklichkeit preiszugeben und zu verleugnen. « Nicht ich, sondern Du, Gott », so könnte man das Grundmotiv aller theistischen Mystik formulieren. Der Buddhist würde beifügen : Es gibt überhaupt kein Ich.

Gott, nicht Ich, dieses Prinzip ist uns aus der christlichen Alltagspredigt vielleicht nur allzu sehr vertraut. Sich selbst verleugnen und Christus nachfolgen : dies ist gängige Zusammenfassung der christlichen Moral. Viele Zeitgenossen ertragen das nicht mehr. Christliche Mystiker aber nehmen es radikal ernst.

So hat etwa der orthodoxe Mönch Symeon der Neue Theologe (gest. 1022) das bei allen Mystikern beliebte Bild vom Eintauchen in den göttlichen Ozean breit ausgeführt als ein völliges Einsinken in das göttliche Lichtmeer, wobei die ganze Welt entschwindet und der Intellekt, "verhüllt von der göttlichen Finsternis und dem göttlichen Licht" unbeweglich wird und sich in Gott "bewegt ohne sich zu bewegen". Der Mystiker ist dann "tot ohne tot zu sein", vereint mit Gott in Gott lebend, "nicht mehr sich selber lebend" : das menschliche Ich ist ausgeschaltet und wirkungslos; die lichtvolle göttliche Gegenwart füllt das Bewusstsein.

Im christlichen Westen drückt sich Meister Eckhart in anderer Sprache, aber im gleichen Sinne aus. In seinem Traktat über die Abgeschiedenheit, den Rückzug aus Ich und Welt, schätzt er die Abgeschiedenheit höher ein als christliche Liebe und Demut; denn völlige Trennung vom irdischen Sein macht den Menschen Gott ähnlich, lässt ihn wieder zu dem werden, was er vor der Schöpfung ewig in Gott selber war, gleich mit Gott im göttlichen Wissen. Gott selber ist völlig abgeschieden von der Schöpfung; darum gilt : « Soll der Mensch Gott gleich werden, soweit eine Kreatur Gleichheit mit Gott haben kann, so muss das geschehen durch Abgeschiedenheit » (Meister Eckhart, Werke, hrsg. von Niklaus Largier, Frankfurt am Main, 1993. Bd 2, S. 442 f). « Leer sein aller Kreatur ist Gottes voll sein, und voll sein aller Kreatur ist Gottes leer sein ». – Dieses Prinzip des "Leerseins von aller Kreatur" und entsprechendem "Vollsein von Gott" hat auch die Reformatoren entscheidend beeinflusst. Zwingli betont, wir müssten ganz leer werden von uns selber und so "in Gott verwandelt". Und Calvin fügt hinzu : « Gott will, dass wir aller Güter leer seien, damit er uns mit seiner Gottheit füllen könne. »

Das Motiv des menschlichen Leerwerdens zugunsten der göttlichen Fülle beherrscht auch alle nichtchristliche Mystik. « Ich bin nichts, Du Gott bist alles » sagen vereint islamische und hinduistische Mystiker. Wesentliches Anliegen der Sufis ist der Kampf gegen die nafs, das vitale, sich immer behaupten wollende Ich. Für diesen Kampf gibt es zahllose Beispiele. In der Kreuzzugszeit verlangt der damaszenische Scheich Arslān von seinen Schülern, dass sie « aus sich selbst und allem andern herauskommen »; denn ohne dies Verlassen ihrer selbst sei ihre natürliche Existenz nichts anderes als shirk, Bestreitung der Einzigkeit Gottes. Das islamische Bekenntnis zur Einheit und Einzigkeit Gottes ist nur dann vollkommen, wenn der Mystiker sich selber vergisst und verleugnet. Wer behauptet, er bekenne die Einzigkeit Gottes, sei ipso facto ein Gottesleugner; denn er gebe zu verstehen, er existiere ohne Gott. In der sufischen Theorie zählen das "Entwerden", fanā, und das "in Gott Bleiben", baqāʾ, zu den wichtigsten Stationen auf dem mystischen Weg. Der Mystiker soll seiner menschlichen Attribute und Eigenschaften entledigt und mit göttlichen Attributen und Eigenschaften ausgerüstet werden.

Der indische bhakta Ramakrishna wurde nicht müde, seinen Lieblingswunsch an Gott zu richten : « Ich bin das Werkzeug, Du Gott bist der Handwerker; ich bin der Wagen, Du bist der Wagenlenker », was bedeutet : nicht ich bin der Handelnde, Du allein bist es der in mir und durch mich handelt; denn ich bin nichts, Du bist alles. Dass sein sich selbständig gebärendes Ich zugunsten der göttlichen Gegenwart ausgeschaltet würde, das ist Ramakrishnas innerstes Anliegen. Ein südindisches shivaitisches Itinerar der Reise zu Gott führt am Ziel zu Shiva-bhogam, dem "Genuss Shivas". Dabei ist Shiva nicht Objekt des Genusses, vielmehr handelt er als Subjekt : im bhakta, dessen Ich völlig ausgeschaltet ist, und durch den bhakta, "geniesst Shiva" die Welt. Der bhakta ist nur noch Gottes Werkzeug.

Was den Buddhismus betrifft, so hat er bekanntlich die grundsätzliche Nichtexistenz eines "Ich" zu einem seiner zentralsten Dogmen erhoben.

In diesem Grundanliegen der Mystik sind alle Traditionen vergleichbar. Wenn Gott alles ist und der Mensch sein Werkzeug, dann wird in allen Traditionen alles als Gnade erlebt.

3. Die vorausgesetzten Strukturen der menschlichen und kosmischen Wirklichkeit können verglichen werden.

Die folgenden Feststellungen betreffen zunächst die sog. "abrahamischen" Religionen, also Judentum, Christentum und Islam. Es kann nicht genug betont werden, dass das Weltbild dieser mystischen Traditionen demjenigen Plotins und des Neuplatonismus entlehnt ist. Man erinnert sich, dass Plotin das Eine zum Ursprung und Wesen aller Dinge erklärt. Das Eine – Plotin nennt es auch das "Gute", oder "Gott" – ist niemals Objekt der Erkenntnis; es ist völlig unbestimmbar, jenseits aller Grenzen und Definitionen. Indessen ist es überall gegenwärtig, und wir Menschen sind es darum im Grunde auch. Das Eine ist mit dem aus ihm geflossenen bzw. emanierten universalen Intellekt eng verbunden. Wer sich dem universalen Intellekt nähert, nähert sich ipso facto dem unnennbaren Einen, bzw. "Gott" – dem Einen, das er selbst schon ist.

Der universale Intellekt entlässt aus sich die ganze intelligible oder rein geistige Welt : Ideen, Begriffe, andere geistige Wirklichkeiten, z. B. Engel. Dem universalen Intellekt entfliesst die universale Seele, und mit ihr bilden sich die individuellen Seelen. Der menschliche Intellekt ist Bestandteil der individuellen Seele. Dieser individuelle, menschliche Intellekt bewegt sich in der intelligiblen Welt und erkennt geistige Dinge. Er zieht die Seele hinauf zum universalen Intellekt und damit zu Gott. Indessen enthält die menschliche Seele noch andere Seelenkräfte und Tendenzen, wie vor allem Begierde und Zorn, und diese letzteren ziehen sie hinab zur aus der universalen Seele geflossenen materiellen, sinnlichen, mit den Sinnen erfassbaren Welt. Die Dinge dieser Welt sind grundsätzlich stets dem Wandel und der Vergänglichkeit unterworfen. Die individuelle Seele wird also von gewissen in ihr wirkenden Tendenzen an die materielle, sinnliche und veränderliche Welt gebunden, während eine andere Tendenz, der Intellekt, sie hinaufzieht zu den unveränderlichen geistigen Dingen und zu Gott.

Dieses neuplatonische Welt- und Menschenbild hat Theorie und Praxis der Mystik in den abrahamischen Religionen gestaltet. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Psychologie aller drei mystischen Traditionen trotz kleinerer Abweichungen sehr weitgehend der neuplatonischen Psychologie entspricht. Das bleibt wahr, wenn auch die sufischen psychologischen Termini der arabischen und die jüdischen der arabischen bzw. hebräischen Sprache entnommen sind, was ihnen eine je spezifische Kolorierung gibt. – Vor allem aber haben alle drei mystischen Traditionen die grundlegende neuplatonische Dreistufigkeit der Wirklichkeit übernommen und der mystischen Praxis zugrunde gelegt : dem Einen, Göttlichen, sind die intelligible Welt und die sinnliche, materielle Welt stufenweise untergeordnet. Die Praxis des jüdischen, christlichen und islamischen Mystikers beginnt auf der untersten Stufe, in der sinnlichen Welt. Auf dieser Stufe, dem Bereich der Religion, ordnet er sich dem irdischen religiösen Leben samt seinen moralischen Vorschriften ein und unter, kommuniziert mit dem Einen, Göttlichen mittels der religiösen Riten und erstrebt eine moralische Läuterung, durch Verwandlung und Läuterung der seelischen Tendenzen, die ihn nach unten ziehen. Es ist dies im Christentum die erste via, die via purgativa.

Doch ist es in allen diesen mystischen Traditionen entscheidend wichtig, aufzusteigen in die intelligible Welt, in die Welt der geistigen und geistlichen Wirklichkeiten, in den Bereich der Spiritualität. Dort erlangt der Intellekt Schau der unveränderlichen geistigen Dinge, der Ideen und der die materielle Welt dominierenden geistigen Strukturen. Im Christentum ist dies die zweite via, die via illuminativa. Je weiter der Mystiker in der intelligiblen Welt hinaufsteigt und sich dem Einen naht, umso mehr entschwinden ihm die materielle Welt und die unteren Elemente der geistigen Welt. Er nähert sich der "grossen Finsternis", dem undurchdringlichen Dunkel, der schwarzen Nacht des Nichtwissens, der Cloud of Unknowing, in die sich Gottes Herrlichkeit hüllt. Der Mystiker weiss : in dieser dunklen Wolke, oder jenseits ihrer, strahlt die Gegenwart des unerkennbaren Gottes.

Darum kann dem Mystiker die intellektuelle Schau nicht genügen. Gezogen vom Intellekt, strebt er weiter bis zur nächstmöglichen Berührung mit dem unnennbaren Göttlichen und, wenn irgend möglich, zur Vereinigung mit ihm. Im Christentum ist dies die dritte via, die via unitiva. Nach der Meinung eines anonymen, unter dem Pseudonym Dionysius Areopagita bekannten grossen Klassikers der christlichen Mystik, ist dies der eigentliche Bereich der Mystik.

Mystische Traditionen der abrahamischen Religionen lehren, dass die religiösen Grundeinstellungen wie Liebe, Vertrauen, Geduld usw. auf allen drei Stufen der Wirklichkeit erlebt werden können, ja sogar erlebt werden sollten. Vor einigen Jahren hatte ich Gelegenheit, in diesem Kreise an die Predigt Taulers (gest. 1361) über die drei Stufen der Liebe zu erinnern : die süsse, die weise und die starke Liebe. Schon die Bezeichnungen lassen ahnen, dass es dabei um die sinnliche Welt – die "süsse" Liebe –, die intelligible, geistige Welt – die "weise" Liebe – und die beiden übergeordnete Welt geht – die "starke" Liebe. Die süsse Liebe entwickelt sich im Bereich der praktischen Religion. Man freut sich an den sinnlichen Elementen der christlichen Tradition : an dem "süssen Menschen Jesus Christus" und an ergreifenden kirchlichen Riten. Die süsse Liebe, das beglückende religiöse Tun, ist nicht ohne Wert. Sie betrifft jedoch nur das äussere, irdische Leben und bereitet vor auf die weise und die starke Liebe.

Die weise, vernünftige Liebe ist geistiger Natur. Sie beschäftigt sich liebevoll eindringend mit den theologischen Aussagen über die Trinität und die ewige Geburt des Sohnes aus dem Vater. Sie « zieht des Menschen Gemüt weit ab von den fremden, äusserlichen Dingen, so dass er immer mehr in ein Vergessen derselben kommt... Die Dinge entfallen ihm, er verschmäht sie, und es entsteht in ihm ein Überdruss und eine Verachtung von allem, was unordentlich ist. » Und je mehr der Mensch in der intelligiblen Welt weilt und darin aufsteigt, umso mehr « versinkt er in sein eigenes Nichts und in seine Kleinheit. » Überwältigt steht er vor der göttlichen Finsternis; denn je mehr ihm die Grösse Gottes einleuchtet, desto erkennbarer wird ihm seine eigene Nichtigkeit.

An diese weise, intelligible Liebe schliesst sich die starke Liebe :

« Sie leuchtet dem Grunde so wesentlich ein, dass der Geist es infolge seiner menschlichen Schwäche nicht ertragen kann und notwendig verschmelzen muss und wieder auf sein Unvermögen geworfen wird. Und dann hat der Geist keinen Halt, als dass er versinke und ertrinke in dem göttlichen Abgrund und sich in ihm verliere, so dass er von sich selbst nichts mehr weiss, denn der göttliche Gegenstand, der dieser starken Liebe entspricht, ist ihm zu überschwänglich... Wie es da zugeht, das ist besser zu empfinden, als dass man davon spricht. » (Johannes Tauler, Predigten, uebertr. und eingel. von Walter Lehmann, Jena, 1923. Bd 2, S. 54)

Die starke Liebe ist ein Geschehen über allem intellektuellen Erkennen. Man kann nicht davon reden, man kann diese Liebe nicht definieren. Man muss sie empfinden, muss sich von ihr erfüllen lassen. Das menschliche Ich versinkt und schmilzt, Gott allein ist gegenwärtig. Die starke Liebe ist im Grunde Gottes eigene Liebe, darum ist sie "stark". Gott liebt; er liebt auch im Menschen. Jede Selbsttätigkeit des Menschen, physische wie intellektuelle, ist ausgeschlossen. Allein wirklich ist nur die göttliche Einheit.

Die mittelalterliche Predigt hat an vielen Beispielen die Dreistufigkeit des mystischen Tuns entfaltet. Die Dreistufigkeit ist z. B. das Grundschema der berühmten zweiten Predigt Meister Eckharts über die Geschichte von Maria und Martha (Nr. 86), in welcher es darum geht, dass « Gott einem jeglichen Menschen bereit stehe für sein geistiges wie für sein sinnliches Genügen bis ins Letzte, wonach er begehrt » (nâch redelîcher genüegede und nâch sinnelêcher ûf das hoehste, des er begert – Meister Eckhart, Werke, Bd 2, S. 208f). Die Predigt zeigt dann, dass die sinnliche Welt und das sinnliche Sein trotz ihrer Unterordnung unter die geistige Welt immer wichtig bleiben.

Im Verlauf der Predigt skizziert Eckhart knapp die bekannten drei Wege. Der erste besteht darin, « mit mannigfaltigem Wirken mit brennender Liebe in allen Kreaturen Gott zu suchen » – der Weg auf der Ebene der sinnlichen Welt. – « Der zweite Weg ist ein wegloser Weg, frei und doch gebunden, wo man willen- und bildlos über sich und alle Dinge weithin erhaben und entrückt ist, wiewohl es noch keinen wesenhaften Bestand hat » : er betrifft die intelligible Welt, die noch nicht mit dem wesenhaften einen Göttlichen identisch ist. – Daran schliesst sich der dritte Weg. Dieser « heisst "Weg" und ist doch ein "Zuhause-Sein", das ist : Gott zu schauen, unvermittelt in seinem eigenen Sein » (got sehen âne mittel in sînesheit).

Die Dreistufigkeit der religiösen Haltungen spielt auch im Sufismus eine ganz zentrale Rolle. Die Halteplätze oder Herbergen auf dem sufischen Weg können – oder müssen – erfahren werden auf den Stufen der sinnlichen wie der intelligiblen Welt, wie auch auf derjenigen Gottes selbst in seiner Einheit. Traditionell nennt man sie die Stufen der "Allgemeinheit" (ʻāmma), der "Spezialisten" (ẖāṣṣa) und der "Spezialisten unter den Spezialisten" (ẖāṣṣat al-ẖāṣṣa). – Als Beispiel nenne ich hier die Liebe, wie sie in dem weit verbreiteten und beliebten klassischen Sufi-Handbuch des ʻAbdallah al-Anṣārī al-Harawī (gest. 1089) beschrieben wird :

« Die Liebe hat drei Grade.

Der erste ist eine Liebe, die von den Einflüsterungen (des Teufels) befreit, am Dienen ihr Wohlgefallen findet und über Schwierigkeiten hinwegtröstet. Sie erwächst aus dem Studium der Wohltaten Gottes, befestigt sich durch das Befolgen der Sunna und entwickelt sich weiter aus dem Einverständnis mit der Armut. »

In diesem Text ist offensichtlich, dass sich die Liebe auf der Stufe der sinnlichen Welt entzündet; sie erlabt sich an den Wohltaten Gottes und motiviert den vollen Gehorsam, auf der irdischen Ebene, gegenüber der Sunna, dem offenbarten Islam.

« Der zweite Grad ist eine Liebe, die dazu führt, dass man Gott über alles Übrige stellt, dass die Zunge inbrünstig seinen Namen nennt und das Herz seiner Bezeugung (shuhūd) anhaftet. Diese Liebe erwächst aus dem Studium der Attribute Gottes, aus der Betrachtung seiner Zeichen und aus der Einübung in die Halteplätze. »

Hier entfaltet sich die Liebe in der geistigen oder intelligiblen Welt. Die Bezeugung der Einzigkeit Gottes ist von den Lippen ins Herz gesunken; dem Liebenden gilt Gott mehr als das ganze irdische Leben; er vertieft sich in die höheren und geheimnisvolleren Aspekte der Offenbarung und pflegt sein inneres Leben.

« Der dritte Grad ist eine wegraffende Liebe, welche das Reden zum Schweigen bringt, die symbolischen Anspielungen verfeinert und mit den Attributen nicht am Ende ist. Diese Liebe ist der Pol dieser Sache; was darunter ist, sind Formen der Liebe, welche die Zungen ausrufen, die Geschöpfe in Anspruch nehmen und die Intelligenzen als notwendig erachten. »

Das Ich des Liebenden ist in Gott "weggerafft". Er ist am Ziel. Er redet nicht mehr, steht jenseits der Attribute Gottes oder über ihnen, d. h. er lebt in Gottes eigentlichem Wesen und erahnt den Sinn aller symbolischen Ausdrucksweise.

Schon ein Jahrhundert vor Anṣārī, also im 10. Jh., hatte ein anderer Systematiker der Sufik, Abū Naṣr al-Sarrāj (gest. 988), die Dreistufigkeit der Liebe (wie aller anderen religiösen Haltungen) ähnlich beschrieben. Die erste Stufe « entsteht daraus, dass Gott den Gläubigen Gutes erweist » und diese sich in ihrer Lebensführung an die Sunna halten. Dies geschieht in der sinnlich erfahrbaren Welt. Die zweite Stufe « entsteht daraus, dass das Herz auf Gottes Reichtum und Erhabenheit und Majestät und Wissen und Macht schaut », also über Gottes Attribute nachsinnt. Der Sufi lebt in der intelligiblen Welt. Die dritte und höchste Stufe entsteht daraus, dass « die Erkenner (ʻārifūn) schauen und erkennen, dass Gott sie in der Anfangslosigkeit ohne Grund geliebt hat (man erinnere sich an die entsprechende Aussage Eckharts !), und daher lieben auch sie ihn ohne Grund », das heisst, in der Sprache eines noch älteren Sufi, dass die reine Liebe « das Wegfallen der Liebe von Herz und Gliedern ist, so dass es darin keine Liebe mehr gibt und die Dinge durch Gott und für Gott sind ». Der Sufi ist auf der Stufe der Einheit angelangt auf welcher "er liebt, ohne zu lieben".

Es wäre reizvoll, die drei Stufen der Liebe im Christentum mit den in der islamischen Welt erkannten Stufen zu vergleichen.

Im Judentum sind die drei Stufen eng verbunden mit der traditionellen hebräischen Psychologie, d. h. mit den Termini nèfèsh (das vitale Ich), rūaẖ (Geist)und neshāmāh (der göttliche Atem im Menschen). Ein Beispiel : Nach dem Tode irrt nèfèsh auf der Erde herum, in der sichtbaren Welt; rūaẖ freut sich am Paradies und steigt an Feiertagen bis hinauf zur göttlichen Welt (« kehrt zurück zu Gott », Qoh 12,7), lebt also in der geistigen Welt, während neshāmāh « aufsteigt von wo sie gekommen ist », nämlich zu Gott, um dort, in der göttlichen Einheit, « die göttliche Welt zu erleuchten » (Zohar II, 141B). Diese Beziehungen der drei Komponenten der Innerlichkeit müssen natürlich schon in diesem Leben zur Geltung kommen.

In Indien ist die europäische Dreistufigkeit von Kosmos und Mensch nicht im selben Sinn thematisiert worden. Trotzdem liesse sich z. B. anhand der Theorie der bhakti dasselbe Aufstiegsschema nachweisen. Und im Buddhismus kann an die durchaus analoge Lehre von den drei Körpern (trikāya)des Buddha erinnert werden.

4. Vergleichbarkeit der Struktur des Gottesbildes.

Judentum, Christentum, Islam und Hinduismus sind sich darin einig dass das Göttliche als letzter, eigentlicher Urgrund aller Dinge völlig unnennbar, unbeschreibbar und unerkennbar ist. Es kann niemals Objekt objektivierender diskursiver Erkenntnis sein. Gleichzeitig aber sind sich diese Religionen auch darin einig, dass dieses Göttliche in seiner Hinwendung zur Welt und zum Menschen nennbar und beschreibbar ist. In technisch-theologischer Sprache heisst der unnennbare Aspekt apophatisch, und der nennbare, in welchem sich das Göttliche der Welt und dem Menschen öffnet, kataphatisch. Apophatische Sprache ist negative Sprache; sie kann nur sagen, was das Göttliche nicht ist, nämlich weder ein Element der sinnlichen noch der intelligiblen Welt. Kataphatische Sprache hingegen beschreibt Gott in seinem "Herabsteigen" zur Welt (kata = "herab").

Die Annahme dieser beiden Aspekte des Göttlichen entspricht einer logischen Notwendigkeit. Der unnennbare, unbegrenzte, in sich völlig homogene Ur- oder Ungrund der Welt kann nur dann mit der benennbaren, begrenzten und in sich reich strukturierten Welt in Beziehung treten, wenn er in sich selber ebenfalls nennbar, begrenzt und strukturiert ist. Das unnennbare, gestaltlose Göttliche muss auch eine benennbare, gestalthafte Gottheit sein. Das haben alle theistischen Religionen sehr klar gesehen.

Die hinduistische Bhakti hat von jeher betont, die von den verschiedenen Traditionen verehrten Götter, wie Krishna, Rāma, Shiva oder Shakti, die energiehafte Mutter, seien durchaus personhafte Wesen, mit denen man in enge Beziehungen treten könne, da sie sich durch die Welt und in der Welt manifestieren. Gleichzeitig aber wussten sie, dass sie jenseits allen Denkens und Sprechens einfach "sind", unbegrenzt, unbegründet und unerkennbar.

Jüdische Theologie hat das im Tetragramm symbolisierte unnennbare Göttliche entfaltet als einerseits das Unbegrenzte, Nicht-definierbare ʾen sōf, und andererseits als die in sich vielfach lebendige und mit der nichtgöttlichen Welt sich verbindende personhafte Gottheit der Sefīroth, der göttlichen Attribute. Das Unbegrenzte kann sich nur mittels der Sefīroth der Welt und den Menschen öffnen.

Auch die sufische, islamische Theologie hat den Doppelaspekt Gottes stark unterstrichen. Auch für sie ist das eigentliche Wesen Gottes – theologisch : seine "Essenz", dhāt – undefinierbar und unnennbar. Indessen besitzt das Unnennbare in der islamischen Tradition viele Namen : der Allmächtige, der Barmherzige, der Allwissende, der Allmächtige, der Liebende usw. Diese Namen, unverzichtbarer, sinnvoller Ausdruck des Unnennbaren, sind in Wahrheit Relationen, Beziehungen. Diese Beziehungen konstituieren Welt und Menschen. Mittels seiner Namen ist der radikal Jenseitige, Unveränderliche, mit dem Diesseits und allen seinen Erscheinungen verbunden.

Analog verfährt auch die christliche, vor allem die christlich-mystische Theologie. Schon lange vor Dionysius Areopagita (um 500) hat sie die apophatische Ausdrucksweise gekannt und breit ausgebaut. Seit der Mystischen Theologie des Dionysius ist sie fester Bestandteil theologischen Denkens und Redens (ich erinnere z. B. an die "Gottheit" Eckharts). Wenn sie auch in neuerer Zeit vergessen oder bewusst abgelehnt worden ist, kann man ihr eine biblische Verwurzelung nicht absprechen. Gleichzeitig aber hat christliche Theologie auch und vor allem kataphatisch geredet : die nichterkennbare "Gottheit" hat sich offenbart als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Als Vater, Sohn und Heiliger Geist hat sie die Welt erschaffen und ist mit ihr in vielfache Beziehung getreten, vor allem durch die Fleischwerdung des Sohnes, durch dessen Tod, Auferstehung und Rückkehr zum Vater, sowie durch die nie versiegende Wirkkraft des Heiligen Geistes.

Wir halten fest : In der Feststellung, die apophatischen und kataphatischen Aspekte des Göttlichen seien komplementär und unauflösbar sind die erwähnten mystischen Traditionen vergleichbar. Indessen zeigt gerade diese grundsätzliche Vergleichbarkeit, dass die mystischen Traditionen auch als nicht vergleichbar betrachtet werden können. Nicht vergleichbar sind sie nämlich in ihren kataphatischen Aussagen.

Es sind die kataphatischen Aussagen, welche die Religionen voneinander trennen. Die indischen Götter wie Krishna oder Shiva sind in Erscheinungs- und Handlungsweise, trotz einiger gemeinsamer Attribute, durchaus voneinander verschieden, und beide sind verschieden vom islamischen Allah. Der islamische Allah wiederum deckt sich trotz mancher gemeinsamer Attribute weder mit dem Gott des Judentums, noch mit der christlichen Heiligen Trinität. Die Mystiker haben voll Teil an den Besonderheiten der kataphatischen Manifestationen und ihrer Unvergleichbarkeit.

In der mystischen Religiosität spielt der kataphatische Aspekt der Gottheit nichts weniger als eine ganz entscheidende Rolle. Indem er sich dem gestalthaften Gott – Krischna, Rāma, Shiva usw. – in bhakti verbindet, findet der hinduistische Mystiker zum integralen Sein des Göttlichen. Der Sufi seinerseits orientiert sich konsequent an dem Einen Allah, an seinen vielen Namen und an seinem koranischen ewigen Wort. Der mystische Jude hinwiederum lebt in und mit den Sefīroth und verwirklicht so die lebendige Gottheit mitsamt ihrem apophatischen Aspekt, und der mystische Christ hält sich an die trinitarische Offenbarung, zählt auf den Heiligen Geist und vereinigt sich mit Christus als dem alleinigen Retter und dem einzigen Weg zur gesamten Gottheit. Als Verwirklichungen des kataphatischen Aspekts des Göttlichen sind die mystischen Wege nicht miteinander zu vergleichen. Oder höchstens negativ, indem man die Unterschiede ins Licht stellt.

Hier stellt sich ein Problem, auf das wir zum Schluss nur hinweisen möchten.

Wenn die mystischen Traditionen auf der kataphatischen Ebene infolge der Verschiedenheiten der göttlichen Manifestationen nicht verglichen werden können, wie steht es dann mit der apophatischen Seite ? Auf der Ebene der Sprachlosigkeit, des reinen Seins ? Nun ist es klar, dass bei totaler Sprachlosigkeit jeder Versuch zu vergleichen völlig absurd ist. Wo man nichts beschreiben kann, kann man auch nichts vergleichen. Indessen stellt sich hier eine andere Frage, eine theologische Frage von ungeheurer Tragweite. Was ist im Gottesbild primär und grundlegend : der apophatische, oder der kataphatische Aspekt ? Wenn der apophatische primär ist, dann kann es nur eine apophatische Dimension geben. Im apophatischen Aspekt sind dann alle Gottheiten und Religionen eins. Die verschiedenen konkreten Gottesbilder erweisen sich dann als sekundär und sind nichts anderes als vorläufige Hilfsmittel, um zum Eigentlichen, zum einen Unnennbaren zu gelangen. Alle religiösen Wege führen dann zum selben Ziel, dem jenseits aller religiösen Gestaltungen wesenden Einen Göttlichen. Dies ist eine Schau, die heutzutage mehr als je die Leute anzieht. Wenn man indessen annimmt, der kataphatische Aspekt sei primär und die verschiedenen Gottheiten seien in erster Linie, in ihrem eigentlichen Sein, gestalthafte Wesen, dann ist der apophatische Aspekt jeder Gottheit nur ein Versuch, der einzelnen Gottheit neben der Konkretheit ihrer Einzelgestalt auch noch etwas Geheimnisvolles, Unendliches zuzugestehen. Die mystischen Wege endeten dann bei der einzelnen Gottheit. Jede einzelne Gottheit stünde dann isoliert von allen andern : wir bekennten uns zum Polytheismus (Vielgötterei) – heutzutage ebenfalls eine nicht unpopuläre Theologie ! – Was wählen wir ? Monismus, der alle Religionen relativiert, oder Polytheismus ? Oder gibt es vielleicht eine dritte Lösung des Dilemmas ?

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