Stille und Leere im Zen-Buddhismus
Bisher unveröffentlichter Artikel, 2004
Dass im Zen Stille geübt wird, ist an sich nicht verwunderlich.
Dem Wortsinn nach ist Zen ja nichts anderes als Meditation ; denn
das Wort zen, abgeleitet von sanskrit dhyāna,
über vulgär-indisch jhāna und chinesisch tchàn,
bedeutet « Meditation ». In der Meditation wird ganz allgemein
geschwiegen, es herrscht Stille. Lärm stört den Meditierenden.
Doch diese Stille ist immer gefüllt, es ist dichte Stille, bewusst
gelenkt auf eine bestimmte Ausrichtung hin. Stille Meditation in
irgendeiner Tradition ist geprägt und beinhaltet durch die
Gegebenheiten der betreffenden Tradition, ist traditionsträchtige
Stille. Zen bildet keine Ausnahme. Und abgesehen von der stillen
Meditation, wird im Zen doch auch sehr viel geredet : es werden
regelmässig heilige Schriften rezitiert, und alle Zen-Meister
haben ihre Schüler unterrichtet und haben, so wie seinerzeit der
Buddha Shakyamuni, gepredigt. Diese Predigten sind unsere Quellen
zum Verständnis des Zen. Manchmal haben zwar chinesische Meister
mit Bewunderung auf den märchenhaften Laienbruder Vimalakīrti
verwiesen, der einmal auf eine besonders knifflige Frage mit
Schweigen geantwortet habe : ein Vorbild weisen Verhaltens
gegenüber einem Geheimnis, das unser Erkennen übersteigt ? Die
Meister vergessen, dass Vimalakīrti nicht mit Schweigen, sondern
mit seinen wortreichen Predigten unzähligen Zuhörern zur höchsten
Erkenntnis verholfen hat [1]. Immerhin, ein
chinesischer Zen-Meister hat gesagt : « Heiliges Reden und heiliges
Schweigen gehören beide zum Tun des Erwachten » [2].
Zen ist buddhistische Meditation, ist wesentlich bestimmt durch
die dogmatischen Voraussetzungen des Buddhismus. Dies muss
eingangs betont werden, da Zen, wie wir noch sehen werden, oft
missverstanden wird als eine über-religiöse, undogmatische
Meditationstechnik. Zen ist gewachsen innerhalb der buddhistischen
Traditionen und wird immer Buddhismus bleiben. Die alten und die
heutigen Meister des Zen berufen sich stets auf den Tathāgata, auf
den « So-Gekommenen-und-Gegangenen », d.h. den Buddha, den
« Erwachten » und sein « Gesetz », sein dharmā, seine Lehre
und ihre Deutungen, auch wenn sie sich gelegentlich nicht gescheut
haben, gewisse Elemente aus anderen Traditionen aufzunehmen und
sich einzuverleiben, zum Beispiel aus dem chinesischen Daoismus.
Unsere erste Aufgabe wird also darin bestehen, uns zu
vergegenwärtigen, worum es im Buddhismus geht.
1. Wesen und Sein des Erwachten (Buddha)
In den
ältesten uns überkommenen Dokumenten wird betont, ein Buddha sei
im Grunde ein unfassbares Wesen.
Was er besiegt hat, besiegt ihn nicht ; / was er besiegt hat,
folgt ihm nicht : / diesen Erwachten, der im Unbegrenzten weilt, /
den Spurlosen, auf welcher Spur wollt ihr ihn führen ? – Für ihn
gibt es nicht mehr das verfängliche Streben, / die Lust, die
irgendwohin (d.h. zum Leben) führt : / diesen Erwachten, der im
Unbegrenzten weilt, / den Spurlosen, auf welcher Spur wollt ihr
ihn führen ? (Dhammapada, 179-180) [3].
Der Erwachte, wahres Sein jedes Buddhisten, lebt in der Welt,
und ist doch nicht von der Welt ; er weilt im Unendlichen, im
Unbestimmbaren, ist selber unendlich und unfassbar ; er hinterlässt
keine Spur und wird nicht zu neuem Leben drängen. Völlig
ungebunden, in der Welt und doch nicht in der Welt, schwebt er
gewissermassen im leeren Raum. So formuliert es ein anderer
Vierzeiler aus der eben zitierten, in der buddhistischen Welt weit
verbreiteten Sammlung der Maximen des Erwachten :
Die Meditierenden geben alles preis, / verlangen nach keiner
Bleibe. / Wie Gänse, die von einem Teich wegfliegen, / so
verlassen sie ein Haus nach dem andern. – Sie sammeln nichts.
Spärlich ist ihre Speise. / Ihr Aufenthalt ist das Leere
(sūñña), das Zeichenlose, die völlige Befreiung. / Wie
der Flug der Vögel im Raum, / so kann ihr Dahingehen nicht
nachgezeichnet werden – Sie sind frei von ekligen Ausscheidungen
und hangen nicht am Essen. / Ihr Aufenthalt ist das Leere, das
Zeichenlose, die völlige Befreiung. / Wie der Flug der Vögel im
Raum, / so kann ihr Dahingehen nicht nachgezeichnet werden
(Dhammapada, 91-93).
Die Meditierenden, das sind diejenigen, die sati
praktizieren, « vollkommenes Bewusstsein », die spezifisch
buddhistische, kanonische Meditation, das siebente Glied auf dem
achtgliedrigen Pfad der Erlösung, das Eingangstor zum
samādhi, zur vollendeten « Konzentration » und zur
Befreiung. Sie sind völlig heimatlos, schweben im Raum, wie Gänse
und andere Vögel, in der Leere, dem « Zeichenlosen » und darum
Unerkennbaren, in absoluter, nicht fixierbarer Freiheit. Sie
existieren und existieren doch nicht. Das sagt auch ein weiterer
Spruch :
Im Raum gibt es weder Weg noch Spur. / In der
Aussenwelt gibt es keine suchenden Asketen (samaṇa). / Die
Leute verlangen nach körperlicher Ausdehnung (papañca). /
Die So-Gekommenen-und-Gegangenen (Tathāgatā, die
Buddhas) sind ohne körperliche Ausdehnung (nippañcā)
(Dhammapada, 254).
Die Buddhas leben im weglosen Raum und sie legen keinen Wert
auf ihr körperliches Sein. Dafür aber zeichnen sie sich, wie der
nächstfolgende Vierzeiler ausführt, innerhalb der unbeständigen,
sich ohne Aufhören verändernden Welt dadurch aus, dass sie « kein
Schwanken » (iñjitam) kennen (ibid. 255). Völlig
frei von der Welt heilloser Zerfahrenheit, sind die Buddhas, dank
ihrer nichtweltlichen, unveränderlichen Seinsart, ruhige Pole.
In diesen wenigen, ins buddhistische Altertum weisenden
Vierzeilern ist bereits die vom Zen empfohlene und gelehrte
Zen-Existenz umschrieben. Es gilt, in der als « leer », als
unbestimmbar, als « zeichenlos » erfahrenen Welt, darin lebend und
davon distanziert, die totale Freiheit eines « So-Gekommenen-und-Gegangenen »
zu verwirklichen. Und das ist möglich, wenn der Jünger
des Buddha die wahre Erkenntnis besitzt, d.h. prajñā
(sanskrit) oder paññā (pali). Prajñā / paññā ist
der eigentliche buddhistische Zentralbegriff, der auch im Zen die
entscheidende Rolle spielt. Es ist prajñā, was den wahren
Buddhisten als solchen kennzeichnet. Gewöhnlich wird
prajñā, etwas irreführend, mit « Weisheit » wiedergegeben.
Da es sich nicht um Weisheit im biblisch-europäischen Verständnis
handelt, müsste man zum mindesten « absolute Weisheit » sagen,
« absolut, losgelöst » im wörtlichen Sinne, indem sie von jeglicher
Bindung an ein Subjekt und ein Objekt frei ist. prajñā /
paññā ist absolutes, von allen Beziehungen gelöstes Erkennen
aller Dinge, unter Aufhebung der Dualität von Subjekt und Objekt.
In prajñā / paññā existiert kein Subjekt und kein Objekt ;
es gibt nur leeres « Erkennen » der Dinge in ihrer absoluten
Leerheit, in ihrer Seinslosigkeit. – Solche paññā
erscheint auch im klassischen Dhammapada als ideale
Existenz eines Buddha oder eines dem Buddha Nacheifernden :
Wenn einer in absoluter Erkenntnis (paññā)
sieht, / dass alle Daseinsfaktoren (dhammā) bar sind wesentlichen
Seins (anattā), / dann wird er des Leidens
(dukkha) müde : / dies ist der Weg zur Reinheit
(Dhammapada, 279).
Der Ausdruck anattā, « ohne wesentliches Sein, ohne
Seinszentrum, ohne Seele », ist praktisch synonym mit dem
« Leeren », sūñña, das wir im Dhammapada bereits
angetroffen haben. Da alle Daseinsfaktoren, die das ausmachen, was
wir « Mensch » nennen, kein wesentliches Sein haben, darum « leer »
sind, hat der « Mensch » als Ganzes kein eigentliches Sein, er ist
« leer ». Bei den Daseinsfaktoren handelt es sich um die fünf
« Aggregate » oder « Ansammlungen » (skandha) von
unsubstantiellen Faktoren wie Form/Materie, Empfindungen,
Begriffe, formale Tendenzen und Bewusstsein. Diese « Ansammlungen »
bilden das Fundament der buddhistischen Anthropologie. Die
Aggregate sind unbeständig, leidvoll und bar wesentlichen Seins,
darum ist das Phänomen, das wir « Mensch » nennen, ebenso
unbeständig, leidvoll und bar wesentlichen Seins.
Diese Anthropologie und ihr spezifisches « Erkennen » sind die
Basis des Zen. Sie gilt es zu « verwirklichen », bzw. zu « sein » –
vorausgesetzt, dass man solche Verben in diesem Zusammenhang
überhaupt verwenden darf.
2. Das Diamant-Sutra
In den späteren buddhistischen
Lehrtexten, sūtra genannt, wird prajñā als
höchste der sechs « Vollkommenheiten », pāramitā, also als
prajñā-pāramitā ausführlich behandelt. Das « vollkommene
absolute Erkennen », ist die Frucht von fünf vorausgegangenen
Vollkommenheiten : Gabe, ethisches Benehmen, Geduld, Willenskraft
und dhyāna, « Meditation ». prajñā-pāramitā ist
die direkte Frucht der vollkommenen Praxis, vor allem der
Meditation, dhyāna, « zen » – in der späteren Zen-Tradition
werden Zen und prajñā, Meditation und Erkennen, eng
verbunden, ja ohne weiteres identifiziert : Zen/dhyāna und
prajñā bilden ein unlösbares Ganzes.
Verschiedene prajñā-pāramitā-sūtras haben
nachweislich in der Geschichte des Zen eine grundlegende Rolle
gespielt und spielen sie heute noch. Wir nennen ihrer zwei. Vor
allem ist hier an das Diamant-Sutra, Vajracchedikā-prajñāpāramitā-sūtra
zu erinnern [4].
Dieser Text fasst in bemerkenswert präziser Weise die Dialektik
buddhistischen Seins- und Lebensverständnisses zusammen. Die
dharmā, die Seinsfaktoren, und damit die Menschen, sind
und sind doch nicht, weil « leer » ; weil sie nicht sind, darum
« nennt » man sie einfach dharmā oder « Mensch ».
Der Buddha ist Nicht-Buddha, darum sagt man « Buddha ».
Das sichtbare, sensible Sein ist kein eigentliches, dauerndes Sein, es ist nur
konventionelles, letztlich ungültiges, oberflächliches « Erkennen »
und Benennen unwesentlichen Seins. Es kann zwar nicht
einfach verneint und abgelegt werden ; denn wir leben in ihm und es
erscheint uns als wirklich ; aber es muss als « Leerheit » erkannt
und dementsprechend behandelt werden. – Ich greife ein
bezeichnendes Fragment des Diamant-Sutra heraus ; formell handelt
es sich um einen Dialog zwischen dem Buddha und dem Jünger
Subhūti :
Was denkst du über dies, Subhūti :
gibt es irgendeine Seinsweise
(dharmā) in welcher der So-Gekommene-und-Gegangene zum
unüberbietbaren vollkommenen Erwachen erwacht ist ? – Subhūti
antwortete : Nein, Verehrungswürdiger, es gibt keine Seinsweise in
welcher der So-Gekommene-und-Gegangene zum unüberbietbaren
vollkommenen Erwachen erwacht ist. – Der Verehrungswürdige sagte :
So ist es, Subhūti, so ist es ! Es wird nicht die geringste
derartige Seinsweise erkannt noch erlebt. Darum sagt man
« unüberbietbares vollkommenes Erwachen » !
Darüber hinaus ist zu sagen, Subhūti, dass diese Seinsweise
sich immer gleich ist (sama) und dass es darin gar keinen
Unterbruch gibt. Darum sagt man « unüberbietbares vollkommenes
Erwachen ». Da es weder ein wesentliches Sein (ātman),
noch ein lebendiges Wesen (sattva), noch eine persönliche
Seele (jīva), noch eine Individualität (pudgala)
gibt, kommt es dank günstiger Seinsfaktoren (dharmā) zum
unüberbietbaren vollkommenen Erwachen. Und was ist der Grund
davon ? Der So-Gekommene-und-Gegangene hat gelehrt : günstige
Daseinsfaktoren, günstige-Daseinsfaktoren sind
nicht-günstige-Daseinsfaktoren ; darum sagt man « günstige Daseinsfaktoren »
(S. 86f).
Alle Seinsfaktoren sind leer, ohne eigentliche Substanz, sagte
der alte kanonische Text. Das betont auch hier der Buddha, der
Erwachte, und er überbietet noch das früher Gesagte. Es gibt keine
das Erwachen begünstigende Seinsfaktoren, und dennoch braucht man
sie, dennoch wirken sie. Aber sie sind nicht eigentlich :
man erfasst sie, man benutzt sie – aber sie sind im Grunde nur
« Namen ». Dass alle Seinsfaktoren nur « Namen » sind, aber als solche
eben doch wirksam und notwendig, wird in Zen-Texten immer wieder
betont.
3. Das Herz-Sutra
Das zweite prajñā-pāramitā-sūtra,
das wir nennen möchten, ist das berühmte Herz-Sutra,
prajñā-pāramitā-hṛdaya-sūtra [5].
Dieser kurze, aber höchst bedeutungsvolle Text wird in allen
Schulen des Mahayana regelmässig rezitiert, meditiert und
verinnerlicht, und so auch in den Schulen des Zen. Er bezieht sich
auf Avalokiteśvara, einen der beliebtesten und meistverehrten
aller Bodhisattva, d.h. virtuellen Buddhas. Der Bodhisattva
befindet sich demnach « in tiefer prajñā-pāramitā », war
also ganz versunken ins vollkommene absolute Erkennen, das – wie
schon im Dhammaopada gesagt wurde – erlaubt, die Leerheit
der Dinge zu schauen. In der Tat :
In tiefer prajñā-pāramitā schaut Avalokiteśvara hinab
und sieht : fünf Ansammlungen
(skandha) von Daseinsfaktoren, und diese « leer von
eigener Natur » (svabhāva-śūnya) [6].
Hier, oh Śāriputra, ist Form/Materie dasselbe wie Leerheit
(śūnyatā), und Leerheit ist dasselbe wie Form/Materie.
Form/Materie ist nichts anderes als Leerheit, und Leerheit ist
nichts anderes als Form/Materie. Was Form/Materie ist, das ist
auch Leerheit, und was Leerheit ist, das ist auch
Form/Materie.
Dasselbe gilt von den Empfindungen, den Begriffen, den formalen
Tendenzen und den Bewusstseinselementen (d.h. den übrigen
skandha, welche die Erscheinung « Mensch » ausmachen).
Hier wird mit bemerkenswerter Energie die Identität von
Leerheit und Daseinsfaktoren unterstrichen. Es gibt keine Leerheit
ohne Daseinsfaktoren, und diese hinwiederum sind unwiderruflich
Leerheit. Es besteht demnach im Grunde keine Möglichkeit,
Daseinsfaktoren und Leerheit zu unterscheiden, noch viel weniger,
sie zu trennen. Indessen zeigt die besondere Art des
prajñā-pāramitā-Erkennens, dass die dharmā « in der
Leerheit » weder entstehen, noch bleiben, noch vergehen ; sie sind
eben « leer ». Daran erinnert der weitere Text des Herz-Sutra :
Hier, oh Śāriputra, sind alle Seinselemente (dharmā)
durch Leerheit gekennzeichnet ; sie entstehen nicht, sie werden
nicht gehemmt, sind fleckenlos, nicht fleckenlos, nicht
fehlerhaft, nicht vollständig. Darum, oh Śāriputra, gibt es in der
Leerheit weder Formen noch Empfindungen, noch Begriffe, noch
formale Tendenzen, noch Bewusstseinselemente ; auch nicht Auge,
Ohr, Nase, Zunge, Haut und Vernunft ; auch nicht die Wahrnehmung
von Form, Ton, Geruch, Geschmack, Gegenstand und dharmā ;
auch nicht die Grundlage des Sehvermögens, bis hin zur Grundlage
des Denkens.
Durch prajñā-pāramitā wird also die
wesenhafte Natur und absolute Wahrheit der
Daseinselemente, und damit zusammenhängend der gesamten
anthropologischen Erkenntnis des Buddhismus, in Frage gestellt.
Sie hat nur vorläufige Wirklichkeit, als Behelfsmittel zum Leben
in der empirischen Welt, als Weg zur Erlangung der eigentlichen
Wahrheit, d.h. der Erlösung aus dem Irrtum. Konsequenterweise
erweisen sich im Anschluss an diese Feststellungen auch die
übrigen Grunddogmen des Buddhismus als ungültig, ja als nicht
bestehend, weil leer. Dies betrifft sowohl die Kette der zwölf
sich gegenseitig bedingenden Kategorien von Daseinsfaktoren
(pratītya-samutpāda), wie auch deren Aufhebung, sowie die
wohlbekannten vier « vornehmen Wahrheiten » mit denen der Buddha
seine Predigttätigeit begonnen hat, und schliesslich ganz
allgemein das Erkennen und Gelingen des Weges. Das gesamte
buddhistische Wissen und Tun hat keinen letztgültigen Wert ; es ist
Wissen und Tun, aber « leer ».
In diesem wichtigen, zeitlich dem Zen vorausgegangenen Text ist
das Zen-Geschehen bereits aufs knappste zusammengefasst. Es geht
darum, in der Meditation (dhyāna=zen) normales
Sein und Bewusstsein so zu gebrauchen, dass ihre Leerheit, und
damit ihre Vorläufigkeit offenbar werden. Dies ist das Ziel des
Zen. Zenisten sagen darum : wenn man erwacht ist, tötet man den
Buddha, den Erwachten, der nichts anderes war und ist als Führer
zum Ziel.
Auch dass am Ende des Herz-Sutra die Rede ist von
Übung und vom Gebrauch eines mantra, entspricht dem, was
in der Zen-Praxis üblich ist : dort wird auch geübt, und
mantra-artige Rezitationen begleiten das Tagewerk des
Mönchs.
4. Bodhidharma
Zen baut auf diesen alten Traditionen
auf und hat so eine lange Vorgeschichte. Entsprechend haben die
Zenisten ihr Tun und Erkennen auf eine lange Traditionskette
zurückgeführt, die – wie zu erwarten – beim historischen Buddha
Shakyamuni ihren Anfang nimmt. Sie haben eine Liste von 28
indischen « Patriarchen » aufgestellt, in welcher die
grossen Namen buddhistischen Denkens erscheinen wie Nagarjuna
(2./3. Jh.) und Vasubandhu (4./5. Jh.), deren letzter ein gewisser
Bodhidharma gewesen sein soll. Dieser Bodhidharma, so die
Tradition, habe Indien verlassen und den Zen nach China gebracht.
Er sei somit der erste von sechs chinesischen Patriarchen
geworden.
Historisch kann über diesen Bodhidharma nicht viel ausgesagt
werden. Hingegen schreibt ihm die Zen-Tradition vier Grundsätze
zu, die immer wieder von Zenisten zitiert und als Quintessenz des
Zen betrachtet werden. Es sind die folgenden :
a. Direkt auf den wahren ursprünglichen Geist zielen.
b. Des Menschen (Buddha-)Natur sehen und sein Buddha-Sein
verwirklichen.
c. Eine besondere Weitergabe, jenseits der (traditionellen)
Schriften.
d. Sich nicht auf Worte verlassen.
Die Grundsätze c und d scheinen eine direkte, wortlose
Übermittlung der Wahrheit zu verlangen und den Gebrauch von Worten
und autoritativen Schriften zu verwerfen. Vertreter des Zen
erzählen gerne Anekdoten, etwa wie der Buddha seinem Schüler
Kāshyapa die wahre Erkenntnis übermittelt habe, indem er ihm
wortlos eine Blume zeigte und dieser sich vor ihr verneigte.
Ähnliches wird erzählt von der Übermittlung der wahren Erkenntnis
durch Bodhidharma an seinen ersten Nachfolger. Wäre also Zen eine
wortlose Tradition ? Manche meinen es. Zen wird oft gerühmt als
eine von allen Dogmen, Lehren, heiligen Büchern und Unterweisungen
freie, wort- und bildlose Meditationstechnik. Doch werden, wie
schon erwähnt, in allen Zen-Klöstern in liturgischen Feiern
regelmässig die wichtigsten Sutren rezitiert – das Herz-Sutra
kennt vermutlich jeder Zen-Mönch auswendig –, und die
Zen-Meister haben immer ihren Schülern gepredigt, ihnen mündlich
Richtlinien gegeben und Anfänger und Fortgeschrittene
unterrichtet. Ohne Wortüberlieferung von Meister zu Schüler, und
von als neue Meister vom Meister anerkannten Schülern zu neuen
Schülern ist keine authentische Meditationslinie denkbar.
Die beiden erwähnten Grundsätze verlangen, dass man sich nicht
auf die Texte verlasse, so heilig und unentbehrlich sie auch sein
mögen, sondern dass man vor allem auf die unmittelbare
Transmission der Wahrheit durch einen authentischen Meister achte.
Das ist keineswegs eine besondere Originalität der Zen-Tradition :
alle verinnerlichten, « mystischen » Traditionen betonen die
Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit, eines Meisters, vor allem für
die Weitergabe der Erkenntnis. Der Meister hat das Ziel erreicht,
lebt gänzlich im Ziel des Weges, ist also « erlöst », steht über den
wechselnden Dingen und kennt die Schwierigkeiten und Fallstricke
des spirituellen Pfades. In allen verinnerlichten, « mystischen »
Traditionen lehrt und leitet der Meister nicht nur mit Worten,
sondern vor allem durch sein Sein : er ist der Weg und das
Ziel. Die Kraft seines erlösten und erfüllten Seins schafft
zunächst für seine Schüler einen geistesmächtigen Raum, und wenn
der Schüler innerlich vorbereitet ist, überträgt sie ihm die
letzte Wahrheit. Solche Transmission ist gemeint mit der
« besonderen, direkten Weitergabe ». Alle bekannten, echten
Zen-Meister haben sie praktiziert.
Die Grundsätze a und b umschreiben, worauf der Meister bei der
Weitergabe seines Wissens und Seins achten muss : auf den « wahren
ursprünglichen Geist » und auf die wahrhafte Buddha-Natur des
Menschen. Wie alle religiösen und geistlich-mystischen
Traditionen der Menschheit weiss auch der Buddhismus, dass dem
natürlichen Menschen sein eigentliches Wesen, seine wahre
Natur, verborgen ist. Der Mensch kennt sich selber nicht. Die
religiöse und geistliche Lehre und Praxis – vor allem die Praxis !
– muss ihn sich selber bekannt machen, und die geistliche
Wirkungskraft des Meisters muss ihm die Verwirklichung seines
wahren Seins übermitteln. Beim Zen geht es um die Verwirklichung
der verschütteten (bzw. verschlafenen) Buddha-Natur : die im Schlaf
des Nichterkennens vergessene Buddha-Natur muss « erweckt »
werden.
Die ursprüngliche, durch das Vergessen verdeckte Natur des
Menschen besteht darin, ein Erwachter zu sein, einer, der um die
Leerheit aller Daseinsfaktoren, aller Worte und aller Lehren und
seiner selbst weiss, der diese Leerheit ist, der in seinem wahren
Sein weder entsteht und geboren wird, noch als Individuum lebt und
vergehen wird. Im Zen wird dieses wahre Buddha-Sein im Anschluss
an andere buddhistische Traditionen gerne als « Geist » bezeichnet.
Es ist der « Geist », der sich in der Meditation reinigt, sich von
allen Belastungen und Belästigungen befreit,
so zu prajñā-pāramitā wird, zu absoluter,
in jeder Hinsicht gelöster,
absolut freier Erkenntnis, und der so seine Buddha-Natur
verwirklicht. Dabei muss man freilich beachten, dass « Geist » in
einem spezifisch buddhistischen Sinn verstanden wird, als
Rezeptakel aller sinnlichen Erfahrungen.
Auch wenn die vier Grundsätze des Zen nicht von einem
historischen Bodhidharma stammen sollten, so geben sie doch
treffend das Wesen dieser Tradition wieder : die direkte Initiation
durch den Meister, aufgrund adäquater innerer Bereitschaft des
Schülers.
5. Hui-neng
Entscheidend für die endgültige Gestaltung
des Zen wurde der sechste chinesische Patriarch, Hui-neng, 638-713.
Er war eine historische Persönlichkeit, auch wenn seine
Person von Legenden umrankt ist. Er war ein Meister, dessen Lehre,
Ansprachen und Begegnungen mit Suchenden, uns dank ihrer
Wiedergabe durch seine Schüler zugänglich sind. Hui-neng ist vor
allem bekannt als Künder eines « plötzlichen Erwachens », im
Gegensatz zu andern Buddhisten, die einem allmählich
fortschreitenden, « graduellen » Erwachen den Vorzug gaben. Er ist
somit ein Vertreter der « südlichen Schule » des Zen. Die
Kontroverse zwischen den Verteidigern des plötzlichen und des
graduellen Erwachens, zwischen der « südlichen » und der
« nördlichen » Schule, hat sich in der buddhistischen Welt während
Jahrhunderten hingezogen. Hui-neng betont allerdings, man dürfe
den Gegensatz nicht verabsolutieren. In seinen Reden bezieht er
sich ausdrücklich auf die traditionellen Schriften, vor allem das
Diamant-Sutra, die es nicht nur zu lesen und zu
rezitieren, sondern im eigenen Sein zu verwirklichen gilt.
Das plötzliche Erwachen bedingt Arbeit des Schülers an sich
selber. Der Schüler muss das Seine tun, bevor ihm das Geschenk des
Erwachens zuteil wird, und muss auch nachher weiter an sich
arbeiten. Er muss die ethischen Prinzipien des Buddhismus
respektieren und sein äusseres Leben danach richten, muss die
Schriften eifrig studieren, vor allem das Diamant-Sutra.
Hui-neng wird nicht müde, seine Schüler zu ermahnen, keine Mühe zu
scheuen um in sich die richtige Voraussetzung zu schaffen. « Alles
hängt von euch ab ! » ruft er ihnen zu. Wenn sie dann dem Meister
die richtige Frage stellen und dieser ihnen das entscheidende Wort
mitteilt, wird ihnen das « plötzliche Erwachen » zu Teil.
Im Zusammenhang mit unserem Thema « Schweigen und Leere im Zen »
ist besonders bedeutsam, dass der eigentliche Begründer des Zen
vehement gegen eine falsche, ketzerische Art zu meditieren
polemisiert :
Gelehrte Zuhörer, wenn ihr mich über die Leere reden hört, so
dürft ihr nicht in den Irrtum verfallen, die Leere sei ein leerer
Raum. Das wäre die ketzerische Lehre von der Verneinung aller
Dinge. Wenn einer sich einfach niedersetzte und in seinem Geiste
alles verneinte, wäre dies eine Leere, entstanden durch
Gleichgültigkeit.
Gelehrte Versammlung, die grenzenlose Leere des Universums ist
fähig, Myriaden von Dingen verschiedener Art und Gestalt in sich
zu vereinigen, wie Sonne, Mond, Sterne, Flüsse, Welten, Quellen,
Bäche, Gebüsche, Wälder, gute und schlechte Menschen, Güte und
Bosheit, die Welt der Götter, Höllen, Ozeane und die höchsten
Berggipfel. Der äussere Raum umfasst dies alles, und ebenso steht
es um die Leere unserer Natur.
Wir sagen, unsere wahre Natur sei unendlich, weil sie alle
Phänomene umfasst und weil alle Phänomene in ihr sind. Wenn wir
die Güte oder Bosheit anderer Leute sehen und davon weder
angezogen noch abgestossen werden und wir nicht daran hangen, so
ist der Zustand unseres Geistes so leer wie der Raum. so dass
unsere wahre Natur ebenso leer ist wie der äussere Raum. Daher
nennen wir das Wesen des Geistes « gross » (mahā).
Das, wovon die Unwissenden nur reden, das verwirklicht der
Weise in seinem Geiste.
Gelehrte Versammlung, es gibt unvernünftige Leute, die sich
damit begnügen, sich einfach hinzusetzen und in ihrem Geiste alles
zu verneinen und abzulegen. Sie versuchen, an überhaupt nichts zu
denken und meinen, so seien sie « gross ». Solches Tun ist
ketzerisch ; aber es ist sehr schwierig, ihnen das klar zu
machen.
Verehrte Zuhörer, ihr sollt wissen, dass der Geist ein grosses
Fassungsvermögen besitzt, denn er umfasst das ganze
dharmadhātu (die Sphäre, wo das Gesetz herrscht, d.h. das
Universum). Wenn wir uns seiner bedienen, können wir alles
erkennen, aber wenn wir ihn in seiner ganzen Tiefe benützen,
können wir alles wissen. Alles in einem und alles in allem. Wenn
unser Geist ohne Hindernisse arbeitet und frei ist zu « kommen » und
zu « gehen », dann ist dies prajñā (das ergibt
mahā-prajñā-pāramitā)
[...]
Sprecht nicht immer von « Leere », ohne sie zu
verwirklichen ! [7]
Die wahre Natur des Menschen, sein Leer-Sein, ist kein Vakuum :
Sie ist die Fülle der Welt und ihrer zahllosen Phänomene, aber
eben die Fülle der Welt in ihrer Leerheit. Dass in unserem Text
beiläufig zwischen « Aussen » und « Innen » unterschieden wird, darf
nicht missverstanden werden ; denn das « Aussen », die
Erscheinungswelt, ist ja identisch mit dem « Innen », mit der Leere,
der Buddha-Natur. In der wahren Natur des Menschen sind alle Dinge
leer ; darum entstehen sie nicht, leben nicht und vergehen nicht.
Alles Geschehen findet in der Innenwelt statt/nicht statt, in der
Buddha-Natur.
Im zitierten Abschnitt warnt der Meister seine Schüler vor drei
möglichen Fehlentwicklungen.
a. Angesichts der Schwierigkeiten der Praxis kann es bei einer
rein intellektuellen Beschäftigung mit der Theorie der Leere
bleiben : « Sprecht nicht immer von der Leere, ohne sie zu
verwirklichen ! » Blosses Reden führt nirgendwo hin und ist nichts
als müssige Unterhaltung. Es kommt aufs Tun an, die Theorie muss
Praxis sein, die Leerheit muss Leben sein. – Erinnern wir daran,
dass diese Notwendigkeit für alle ernste Beschäftigung mit
religiösen, spirituellen und mystischen Dingen gilt.
b. Die Leere darf nicht hypostatisiert werden, sie ist nicht
ein Absolutes, vor allem nicht leerer Raum. Wenn sie das wäre,
stände man vor einem blossen Nihilismus, und dieser ist für Hui-neng
das Gegenteil der Wahrheit. Darum will er nicht den Eindruck
wecken, « Leere » sei für ihn der einzig wichtige Begriff, der
keiner weiteren Erklärung bedürfe. Huin-neng ist, wie er selber
betont, ein entschlossener Vertreter der prajñā-pāramitā,
der absolut freien Erkenntnis, ohne Absolutes und ohne Subjekt und
Objekt, wobei die Dinge leer sind und die Leere immer in den
Dingen. Andere Meister werden mit Recht sagen, die Leere selber
sei « leer ».
c. Die dritte Warnung war offenbar damals wie heute aktuell :
manche Anhänger begnügten sich damit, im Zen-Sitz (za-zen)
nichts anderes zu tun, als alle Gedanken und
Gefühlsbewegungen abzulegen, nichts zu denken, und so in sich ein
gedankliches Vakuum zu schaffen. Für Hui-neng ist dies nicht nur
« unvernünftig », sondern « ketzerisch », eine schlimme Abweichung von
der Wahrheit. Denn die prajñā-pāramitā-Leere ist etwas
ganz anderes. – Man hat manchmal den Eindruck, dass bei der
modernen Vorliebe für « nicht-gegenständliche Meditation », die man
als « Zen » interpretiert, diese Warnungen überhört werden.
Es sei uns in diesem Zusammenhang ein kleiner Exkurs erlaubt.
Es kann nicht bezweifelt werden, dass die von Hui-neng abgelehnte
alles verneinende Meditation, die das Erfahren einer tiefen Stille
bezweckt, auf den inneren Menschen beruhigend wirkt und auch den
Körper völlig entspannt. Daher ihre Popularität in der gehetzten,
unruhigen Modernität. Vermutlich haben indessen die Zeitgenossen
von Hui-neng, welchen dieser Ketzerei vorwirft, ihr Tun mit der
buddhistischen Tradition begründet. Buddhistische Meditation
besteht nämlich aus zwei Elementen oder Etappen, die sich ergänzen
und die der Buddhist nicht auseinanderreissen sollte : aus
« Beruhigung », śamatha (pali : samatha), und
« Einsicht » (in die wahre Natur des Menschen), vipaśyana
(pali : vipassana). Alle historischen Lehrer des
Buddhismus haben betont, dass man nicht mit Hoffnung auf Erfolg
zur « Einsicht » schreiten kann, ohne vorherige « Beruhigung », die
gewissermassen das Mittel ist für die Erlangung von « Einsicht ».
Die von Hui-neng apostrophierten « Ketzer » haben sich mit einer
falsch verstandenen « Beruhigung » begnügt. Um zur « Beruhigung » zu
kommen, werden nämlich in umfangreichen Lehrbüchern mancherlei
Methoden vorgeschlagen. – Für Hui-neng ist « Beruhigung » identisch
mit prajñā-pāramitā. Mit prajñā-pāramitā
gewinnt er nämlich « Einsicht » in die Natur des Geistes :
Verehrte Versammlung, wenn wir mittels prajñā-pāramitā
Einsicht erlangen in unsern Geist, kommen wir innerlich und
äusserlich zum Erwachen und erlangen die Buddha-Natur. Unseren
Geist erkennen, bedeutet Befreiung erlangen. Befreiung erlangen,
bedeutet höchstes prajñā-samādhi erreichen, welches
« Gedankenleere » (intuitive Einsicht) ist.
Was ist « Gedankenleere » ?
« Gedankenleere » (intuitive Einsicht) bedeutet : alle
dharmā (sowohl Dinge wie Wahrheiten) mit einem von
Anhaften freien Geist betrachten. Wenn in Tätigkeit, dringt er
überall hin und stockt nirgends [8].
Hui-neng erwartet von seinen Schülern stetige Anstrengung im
Blick auf prajñā-pāramitā und Einsicht. Man gewinnt den
Eindruck, dass diese Tätigkeit mit Sicherheit schliesslich zum
« plötzlichen Erwachen » führt. Dem ist indessen nicht so. Die
Berichte über seine Begegnungen mit genügend (oder auch
ungenügend) vorbereiteten Schülern zeigen, dass seine Person mit
ihrem Sagen den entscheidenden Anstoss gibt. Oft bekennt ein
Schüler, dass er trotz ernster Bemühung das Erwachen nicht
errungen habe. Daraufhin spricht der Meister ein klärendes Wort,
oft in Form eines Gedichtes, und der Fragende ist erwacht. Ohne es
ausdrücklich zu sagen, respektiert Hui-neng das Prinzip der
direkten Übertragung der Wahrheit, von Meister zu Schüler.
6. Lin-tsi (oft : Lin-chi geschrieben)
Gleichzeitig mit
Hui-neng und auch nach seinem Tode haben sich in China mehrere
Schulen gebildet – man hört von fünf Schulen –, die ähnlich
begründete Meditationsformen pflegten. Indessen trägt der
bedeutendste Erbe der Lehre des sechsten Patriarchen den Namen
Lin-tsi (gest. 866 oder 867). Seine Deutung des Buddhismus und
sein Zen sind uns bekannt durch Predigten, Unterweisungen und
Begegnungen mit Schülern, allerhand Anekdoten, Äusserungen, die
von Anhängern sorgfältig aufgezeichnet worden sind [9].
Auch Lin-tsi ist, wie sein Vorgänger Hui-neng, ein Vertreter
des « plötzlichen Erwachens ». Auch er hat, wie Hui-neng, die
traditionellen Schriften und Abhandlungen durchforscht (S. 90 ;
115) ; er kennt die buddhistischen Dogmen wie die Lehre von den
drei « Körpern » des Buddha (S. 58 f ; 123 usw.),
die Lehre von der kausalen Abhängigkeit (pratītya-samutpāda, S.81),
und auch für ihn ist der Buddha, wie im Diamant-Sutra, ein
« Name » (S. 67) und er weiss, dass die Namen und ihre Buchstaben
leer sind (S. 103). Auch er kennt die drei traditionellen
« Fahrzeuge » (d.h. die yāna « Fahrzeuge » der Hörer, der
Einzelbuddha und der Bodhisattva, S 162) und er ist wohl
informiert über ihre Unterschiede, auch er identifiziert Geist,
Buddha, Gesetz und Weg (S. 117), und lehnt eine stille Meditation
ab, die sich begnügte mit dem Ablegen aufkommender Gedanken :
Es gibt gewisse Mönche mit geschorenem Haupt, die nach einem
guten Essen sich in dhyāna hinsetzen, um Kontemplation zu
üben. Sie packen jeden unreinen Gedanken, um sein Erscheinen zu
verhindern ; sie suchen die Ruhe, weil der Lärm sie stört. Das ist
ein ketzerisches Vorgehen. Ein Meister-Patriarch (es handelt sich
um einen berühmten Schüler von Hui-neng) hat gesagt : « Den Geist
auf die Ruhe lenken, ihn in die Höhe heben, um die Aussenwelt zu
betrachten, ihn in sich zu sammeln, um ihn vom Äusseren zu
befreien, ihn starr werden lassen, um volle Konzentration zu
erlangen » – das alles ist nichts als Fabrikation von
karman (das es im Gegenteil zu tilgen gälte) (S. 94).
Und noch deutlicher :
Ehrwürdige ! Wenn ich sage, man dürfe das Gesetz
(dharmā) des Buddha nicht « aussen » suchen, verstehen mich
die Lehrlinge nicht und meinen, sie müssten es in ihrem Innern
suchen. Darum setzen sie sich hin, lehnen sich gegen eine Wand und
verharren regungslos, in Meditation versunken, die Zunge gegen den
Gaumen gepresst. Das halten sie für die Methode der Patriarchen
und für das Gesetz des Buddha ! Welch grosser Irrtum ! Wenn man
regungslose Reinheit für die Wahrheit hält, dann unterwirft man
sich dem Nichterkennen als seinem Herrn und Meister (S. 131).
Regungslos dasitzen und nichts denken, das ist das, was man
lernt in der Schule des Nichterkennens, des Irrtums. Die Schule
der Wahrheit kann mit dieser Praxis nichts anfangen. Für sie ist
stille, jeden Gedanken vermeidende Meditation nicht nur nutzlos,
sondern schädlich. Man muss auf sie verzichten und das « plötzliche
Erwachen » erwarten.
Lin-tsi betont, er diskutiere mit seinen Schülern Tag und Nacht
und unterrichte sie (S. 130), aber sie verstünden ihn nicht. Der
Grund : sie nehmen seine Worte zu ernst ; denn seine Worte
sind« leer », nicht anders als alle Schriften und Lehren der Buddha
und Patriarchen :
Ihr, meine Anhänger ! Nehmt das, was ich euch sage, nicht ernst !
Warum nicht ? Meine Worte entbehren jeder beweisenden Begründung ;
sie sind nur Figuren die man für einen Augenblick in die Luft
zeichnet, so wie man zu Lehrzwecken farbige Bilder malt und andere
Illustrationen verwendet (S. 160).
Lin-tsi versucht nicht, sorgfältig Thesen zu formulieren, die
gewissermassen als gültige Dogmen und ihre Auslegung Anerkennung
finden könnten. Er spricht und handelt spontan, im Bewusstsein der
Leerheit aller Worte und Dinge. Bei ihm kommt es immer auf den
spontan erfahrenen Augenblick an. Das erwartete Erwachen ist ein
Augenblicksgeschehen ; es gibt niemals ein Erwachen, wenn es nicht
in einem Augenblick geschieht, so wie bei Hui-neng das Wort des
Meisters plötzliches Erwachen bewirkt.
Noch konsequenter als Hui-neng verkündet Lin-tsi seine
Überzeugung, dass der Mensch von jeher und unwiderruflich ein
Buddha ist, und dass auch Geist und Gesetz Buddha sind, natürlich
in ihrer « Leerheit ». Für Lin-tsi ist diese Buddha-Leerheit der
« wahre Mensch », für den er eine neue Bezeichnung einführt : der
wahre Mensch ist « ein Mensch ohne Geschäft », ein Mensch ohne Zweck
und Plan, der in jedem Augenblick einfach dieser Augenblick
ist – eine Lehre, die direkt an das daoistische Ideal des
wu-wei hinweist, das Ideal des « Nichthandelns », das in
freier Spontaneität einfach « ist », das auf den Moment vertraut und
nicht-handelnd handelt.
Das virtuelle Buddhasein soll erwachen. Das Erwachen wird nicht
erreicht durch Forschen, Studium und Meditation : es muss spontan
erfolgen. Daher die eigenartige Methode Lin-tsis, die darin
besteht, den zu Erweckenden zu schockieren. Lin-tsi schockiert auf
jede denkbare Weise : mit einer unflätigen, den Buddha, die
Patriarchen und alles Verehrungswürdige in den Schmutz ziehenden
Sprache (die Buddha und Patriarchen sind « das Loch einer Latrine »
bzw. das, was man heute WC-Papier nennt) ; er produziert bei jeder
Gelegenheit ein unanständiges lautes Rülpsen, verlangt
gebieterisch und unter Gewaltandrohung eine sofortige Antwort auf
eine unmögliche Frage und spart nicht mit Schlägen und
Beleidigungen – wie bereits sein Lehrer an ihm verfahren hatte.
Vernünftiges Reden und Denken kann nur das Nichterkennen
verstärken, das Nichterkennen, das die wahre Natur des Menschen,
sein Buddhasein, verdeckt. Versuche, mit Argumenten zu überzeugen,
müssen immer fehlschlagen. Die einzige Hoffnung besteht im Schock,
den ein Kandidat erfährt, in einem unerwarteten Entsetzen, im
Erleiden eines gewalttätigen Umbruchs. Dann kann es geschehen,
dass einer in einem Augenblick seine Buddha-Natur realisiert :
Da war ein Dekan namens Ting, der kam, um sich vom Meister
(Lin-tsi) beraten zu lassen. Er fragte, welches die grosse Idee
des Buddhismus sei. Der Meister erhob sich von seinem Bänder-Sitz,
packte den Frager, gab ihm eine Ohrfeige und liess ihn dann los.
Ting blieb starr stehen. Die Mönche an seiner Seite sagten ihm :
« Dekan Ting, warum grüssen Sie nicht ? » Kaum hatte Ting gegrüsst,
erlangte er das grosse Erwachen (S. 194).
Die Frage Tings war intellektueller Art, sie verlangte nach
vernünftiger Reflexion, Definition und ausführlichem Kommentar.
Alle Fragen dieser Art gehen grundsätzlich an der Wahrheit vorbei ;
denn die Wahrheit ist nicht Vernunft-Logik. Darum folgt
unvermittelt Lin-tsis Schock-Methode, hier mit unbegründeten
Gewalthandlungen. Der misshandelte Frager kann nur starr stehen
bleiben. Glücklicherweise wird er ermuntert, für die Gewalt
dankend den Täter zu grüssen, was er auch tut : er nimmt den Schock
an, ergibt sich dem Meister – und wird zur Wahrheit erweckt.
Die Nachfolger Lin-tsis haben diese Schock-Methode zwar
gelegentlich nachgeahmt, aber nicht zu verallgemeinern gewagt.
Einer so starken und ganz offenbar in wirklichem prajñā-pāramitā
lebenden Persönlichkeit wie Lin-tsi konnte man sie
gestatten. Aber nicht jeder nachfolgende Meister war ein Lin-tsi.
Als Ersatz für den vom Lehrer verabreichten heilsamen Schlag oder
Schock hat man das kōan eingeführt, die lang andauernde
krampfhafte Konzentration auf ein « vorliegendes Dokument », ein
kōan, das, manchmal in geheimnisvoller Verschlüsselung,
die Wahrheit des Erwachens enthält. Diese « vorliegenden Dokumente »
bestanden vor allem in Anekdoten über die Begegnungen von Meistern
mit Schülern – die oben wiedergegebene Begegnung Lin-tsis mit dem
Dekan Ting ist ein Beispiel, deren es bei Lin-tsi noch weitere
gibt. Auch manches, das von Hui-neng und anderen Vorgängern Lin-tsis
erzählt wird, trägt den Charakter eines kōan, d.h.
eines « vorliegenden Dokumentes ». Lin-tsi hat also gewissermassen
kōan geliefert, sie aber noch nicht benützt als Mittel
zum Erwachen.
Als dann, um 1200, die Lin-tsi-Schule nach Japan kam (dort
heisst sie, in japanischer Aussprache des Gründernamens : Rin-zai)
wurde das kōan geradezu zu ihrem eigentlichen
Kennzeichen. Der unentwegte, immer erfolglose, zu verzweifelter
Versessenheit treibende vergebliche Versuch, das unlösbare
kōan zu lösen, um zum Erwachen zu gelangen, führt
schlussendlich zu einer Art Verzweiflungs-Schock, der die stets
vorhandene, aber völlig verdeckte und verkannte Buddhanatur
freilegt. Die Lösung des kōan besteht genau im Aufbrechen
der Buddha-Natur. Es gibt im Rahmen der Rin-zai-Schule im Grunde
keine andere « Lösung » des kōan. Im Blick auf die
Entwicklung der kōan-Methode und ihren Gebrauch heute
kann man sich übrigens fragen, ob die in ihr geschehene strenge
Ritualisierung der Rinzai-Meditation nicht im Gegensatz steht zu
Lin-tsis ungehemmter Spontaneität.
7. Dōgen
Gegen Ende des 12. Jahrhunderts wurde die
Rinzai-Schule in Japan eingeführt durch den Japaner Eisai (1141-1215) ;
dieser hatte sich in China in der Lin-tsi-Tradition
ausbilden lassen. Andere Schulen des Buddhismus waren schon früher
nach Japan gekommen. In Japan war also Zen eine Neuigkeit. Unter
den vornehmen jungen Männern, die sich damals dem Buddhismus
zuwandten, befand sich Dōgen (1200-1253). Im Alter von dreizehn
Jahren wurde er Mönch im Kloster Hiei, damals ein Zentrum des
japanischen Buddhismus. Er praktizierte dort die damals
vorherrschende Tendai-Methode und lernte später, in einem andern
Kloster, auch den Rinzai-Buddhismus kennen. Ein « grosser Zweifel »
liess ihm keine Ruhe : wenn alle lebenden Wesen von jeher die
Buddha-Natur besitzen, wie es die Lehre des Buddha verheisst,
warum muss trotzdem jeder Mensch erst mit Mühe zur Buddha-Natur
« erwachen » ? Niemand war fähig, ihm diesen Zweifel
zu klären ; darum machte sich der junge Mönch entschlossen auf
die Suche nach dem « wahrhaften Meister ». Aber in Japan
konnte er ihn nicht finden.
So reiste Dōgen im Jahre 1223 nach China. Dort studierte er
zunächst in verschiedenen Klöstern weiterhin die Methode Lin-tsis,
bis er im Jahre 1225 in der Person des Meisters Ju-ching, einem
Vertreter der Tsao-tung-(jap. Sō-tō)-Schule des Zen, den
ersehnten wahren Meister fand. Diese Schule beharrte energisch auf
zwei wichtigen Prinzipien : absolute Treue zu den heiligen
Schriften, die es unentwegt zu studieren gilt, und unbedingtes
Festhalten an langdauerndem meditativem Sitzen (jap. za-zen).
Die Schüler Ju-chings mussten stundenlang, oft beinahe
nächtelang, sitzende Meditation üben, und wehe, wenn sie dabei
einschliefen ! Der Meister zögerte nicht, den Schlaf als
Zeitverschwendung zu beschimpfen und die Schläfer wenn nötig mit
Gewalt aufzuwecken. Die Meditation bezweckte, wie Ju-ching
erklärte, « Körper und Geist fallen zu lassen », und Körper und
Geist konnte man « fallen lassen » in meditativer Konzentration auf
einen einzigen Punkt. Dies Vorgehen entspricht der traditionellen
buddhistischen śamatha-, d.h. Beruhigungs-Meditation, in
der man sich ebenfalls auf einen Gegenstand konzentriert..
Während seines Studiums bei Ju-ching schrieb Dōgen seine
Gespräche mit dem Meister und seine Beobachtungen über sein
Verhalten auf. Daraus ist ein höchst bedeutsames und lehrreiches
Dokument entstanden über die Praxis des Zen in China im Anfang des
13. Jahrhunderts [10].
Im Jahre 1227 kehrte Dōgen nach Japan zurück und lehrte,
zunächst in verschiedenen Klöstern, den Zen seines Meisters, eben
den Zen Sō-tō, bis er im Jahre 1245 das Kloster Eiheiji,
« Ewiger Friede », in der Provinz Kyoto gründete, wo er bis zu
seinem Tode 1253 wohnte und das bis heute das spirituelle Zentrum
des Sō-tō geblieben ist.
Nachdem Dōgen schon früher verschiedene Traktate veröffentlicht
hatte, fasste er am Schluss seines Lebens seine zwischen 1231 und
1253 verfassten Predigten und Traktate zusammen in seinem
Hauptwerk, dem umfangreichen Shō-bō-gen-zō, einem der
wichtigsten Dokumente japanischen Denkens [11]. So wie sich seinerzeit im
Chinesen Lin-tsi die Freiheit der Zen-Erfahrung durch
unbekümmertes spontanes Handeln äusserte, so führte dieselbe
Freiheit den Japaner Dōgen zu kreativer Handhabung des Denkens und
der Sprache. Das zeigt sich vor allem im Gebrauch des
kōans, das von Dōgen auch verwendet wird, das aber bei
ihm, im Gegensatz zur Praxis des Rinzai, mancherlei sprachliche
Deutungen zulässt :
Für Dōgen ist bezeichnend, dass er einen Begriff, eine Metapher
oder ein Bild oft wiederholt und bei diesen scheinbar
überflüssigen Wiederholungen die Wortfolge ändert, die Syntax
verkehrt, verschiedene Sinngehalte nennt, neue Ausdrücke schafft
und vergessene Symbole wiederbelebt. Diese sprachlichen Vorgaben
sind nicht Bausteine für ein neues religiöses oder philosophisches
System, es handelt sich vielmehr um konzentrische Wellenkreise,
die vom zazen ausgehen und zum zazen
zurückkehren, und die Dōgens grundlegenden Glauben an die absolute
Leerheit widerspiegeln und verstärken. Er betrachtet diese
sprachlichen Operationen als die eigentliche Tätigkeit des
zazen, als nichts anderes als Nicht-Denken. So wird die
Sprache des alten kōan-Paradigmas zur lebendigen Kraft,
die sich auswirkt als « kōan der Verwirklichung », indem,
was besonders wichtig ist, kōan zu zazen wird
und zazen zu kōan [12].
In der Meditation wird kōan zu zazen und
zazen zu kōan. Während in der Lin-tsi-Schule
das kōanwirkt, indem der Meditierende es sich
gewissermassen einverleibt, indem er sich mit ihm identifiziert
und es so zu seinem Instrument macht, wird das kōan bei
Dōgen zu zazen, zu Meditation, und weil zazen
identisch ist mit prajñā-pāramitā, dem « absoluten
Erkennen », schenkt es von sich aus die Befreiung, das Erwachen,
als freie Gabe. Auf diese Weise hat Dōgen auch die Antwort
gefunden auf sein persönliches kōan, auf den « grossen
Zweifel », der ihn von Anbeginn an geplagt hatte : warum müssen wir
nach Erwachen streben, da doch der Buddha gesagt hat : « Alle Wesen
haben die Buddha-Natur, und der Tathāgata ist ewig und verändert
sich nicht » ? Die Lösung ist, in Umkehrung der Regeln der
chinesischen Grammatik : der Buddha hat gesagt : « Alle Wesen
sind Buddha-Natur, und der Tathāgata ist ewig,
nicht-existierend/exisitierend, und er verändert sich » [13].
Das heisst : wir sind Buddha-Natur und sind es nicht,
sind Tathāgata und sind es nicht, und wir verändern uns.
Diese Neudeutung des Buddha-Wortes trifft sich, wie
man leicht sieht, mit den Aussagen des Diamant-Sutra und
der Grundwahrheit der prajñā-pāramitā, von der sich Dōgen
niemals entfernt.
Bei Dōgen ist die Stille der kōan-Meditation nicht
krampfhaft beängstigend wie in der Rinzai-Tradition, sie ist
schöpferisch-befreiend. Dieser befreiende, schöpferische, in der
Leerheit aller Phänomene begründete und Veränderung ermöglichende
zazen war denn auch vielfach das Ausgangserleben
künstlerischen Handelns, in Kalligraphie, Tee-Zeremonie,
Blumen-Arrangement, Bogenschiessen usw. Die Freiheit der Leerheit aller
Dinge und seiner selbst ist Voraussetzung befriedigenden
ästhetischen Handelns.
Allerdings : das schöpferische zazen kann kaum das
Resultat eigenmächtigen Vorgehens sein. Man kann es nicht auf
eigene Faust erzwingen. Dōgen ist in dieser Hinsicht unnachgiebig :
die Leitung durch einen Meister ist unerlässlich, und zwar durch
einen kompetenten, wahrhaftigen Meister, wie er selber einen
gesucht und mit viel Mühe und Geduld auch gefunden hat. Diesem
Meister muss man unbedingtes Vertrauen schenken, muss sich ihm
vorbehaltlos übergeben :
Verstehen des Gesetzes (d.h. der Buddha-Lehre) und Erlangen
des Weges hangen ab von der Energie des Meisters. Eines müssen wir
wissen : wenn wir einen Zen-Meister um Rat fragen, dürfen wir nicht
ihn anhören und gleichzeitig seine Erklärungen unsern eigenen
Ideen anpassen. Wer so vorgehen wollte, kann die Lehren des
Meisters niemals verstehen. Wenn wir einen Meister über das Gesetz
befragen, müssen wir Leib und Geist reinigen, unser Sehen und
Hören beruhigen, und die Aufmerksamkeit ganz auf das Lehren des
Meisters richten und es empfangen, ohne irgendeinen anderen
Gedanken damit zu vermengen. Leib und Geist müssen ganz mit Leib
und Geist des Meisters eins sein, so wie man Wasser von einem
Gefäss in ein anderes giesst. Nur wenn man so vorgeht, kann man
die Lehren des Meisters empfangen [14].
Diese Unterweisung wirft alle modernen Hermeneutik-Theorien
über den Haufen. Es geht nicht darum, einen Text, eine Aussage,
eine Lehre, aus den Denk-Kategorien des Autors in die unsrigen zu
übersetzen, so wie z.B. gewisse Theologen das mythologisch
fundierte Denken biblischer Autoren zu « entmythologisieren »
trachteten. Es geht darum, das eigene Denken völlig zu verneinen,
es als total ungültig zu vergessen, « Leib und Geist fallen zu
lassen », nicht mehr getrennt vom Meister zu existieren, sondern
ganz mit dem Meister « eins zu sein ». Wenn man sich « in den
Meister ergiesst wie Wasser von einem Gefäss in ein anderes »,
wird der Meister ebenso seine Lehre, und vor allem sein Sein, wie
Wasser in den Schüler giessen. Dies ist die direkte Transmission,
nicht bloss der Lehre – diese ist ja nur ein Behelf –, sondern der
Verwirklichung der Leerheit aller Dinge, der prajñā-pāramitā,
des Erwachens ; es ist die direkte Weitergabe der
Wahrheit, von der die Grundsätze Bodhidharmas handeln. Dōgen sagt
einmal, er sei erwacht, als er Leib und Seele habe fallen
lassen.
Dies ist die Realität des authentischen Zen. Sie hat nichts zu
tun mit moderner « nicht-gegenständlicher Meditation ». Nebenbei sei
bemerkt, dass durch das « Fallenlassen von Leib und Geist » die
innere Stille des Meditierenden vollkommen, dass sie
grenzenlos wird, jedoch erfüllt von der Wahrheit des Menschen und
der Welt.
Als erfahrener Meister gibt Dōgen noch genauere Weisungen :
Wer sich im Buddha-Weg üben will, muss in erster Linie an ihn
glauben. An den Buddha-Weg glauben, heisst glauben, dass man
selber von jeher auf dem Buddha-Weg war, dass man nicht Opfer der
Nichterkenntnis geworden ist, dass man sich nicht falschen
Begriffen hingibt, dass man keine verkehrten Ideen hat, dass es in
der Welt kein Wachstum und keine Verminderung gibt, und dass es
auch keine Nichterkenntnis gibt. Wer einen solchen Glauben hat,
wer diesen Weg genau verstanden hat, und wer dementsprechend übt,
erfüllt die grundlegenden Bedingungen, die ihn zum Studium des
Weges befähigen.
Die Methode besteht darin, dass man nicht mehr auf die Vernunft
hört, die uns stets wegzieht auf den Weg unterscheidenden Denkens.
So soll man die Anfänger gewöhnen und führen. Nachher entledigt
man sich des Körpers und des Geistes und verzichtet vollständig
auf die beiden Ideen Nichterkenntnis und Erwachen. Das ist die Art
der Fortgeschrittenen.
Ganz allgemein kann man sagen, dass es sehr wenige sind, die
daran glauben, dass sie sich auf dem Wege des Erwachten befinden.
Wenn sie wirklich diesen Glauben haben, merken sie ganz von
selbst, ob der Grosse Weg offen oder verschlossen ist. Sie
erkennen dann auch den Ursprung von Nichterkennen und
Erwachen.
Versuchen wir doch, die Vernunft auszuschalten ! Von zehn,
die das tun, werden acht oder neun plötzlich den Buddha-Weg
sehen [15].
Dōgen nennt zwei Stufen der Initiation. Die erste besteht
darin, dass man aus der Vernunft aussteigt, und damit aus dem
diskriminierenden, definierenden, stets binären, logischen, die
Einheit verleugnenden Denken. « In der Welt ist es sehr selten mit
dem Entweder-Oder getan » hat, meine ich, auch Goethe gesagt. Die
Vernunft ist ein Dämon, der den Suchenden stets von der
übergreifenden Wahrheit der Leerheit aller Dinge, der prajñā-pāramitā,
abzuhalten versucht. Der Dämon wird verscheucht
durch die « beruhigende Meditation », durch śamatha. –
Darauf folgt die zweite Stufe. Sie entspricht der « Einsicht »,
vipaśyana. Man erkennt – dies Erkennen wird
bezeichnenderweise als ein Glaubensakt beschrieben –, dass man von
jeher auf dem Buddha-Weg war, dass man nicht anders kann, als ihn
zu gehen. Das bedeutet, dass es ein binäres Denken eigentlich
nicht gibt ; dass das, was uns die Vernunft vorgaukeln will,
nämlich die angebliche Gültigkeit des Nichterkennens, d.h. des
« normalen », sinnlich-vernünftigen, binären Welterkennens als
Gegensatz zum « Erwachen », schon längst, schon immer und für immer,
überwunden ist ; dass wir von jeher « Erwachte » waren, und jetzt
eingeladen, diese unsere ewige Wahrheit zu verwirklichen : als
« Erwachte », buddha, in prajñā-pāramitā zu
leben. Verwirklichung wird Ereignis durch Hingabe an den Meister –
obwohl das Ende des Zitates doch noch anzudeuten scheint, dass sie
sich auch ohne die aktive Energie eines Meisters ereignen
kann.
8. Abschluss
Ausgehend von der Seins-Weise eines
Buddha, wie sie im alten Buddhismus (Dhammapada),
erfahren und konzipiert wurde, nämlich als überweltlich/weltlich
und unfassbar/fassbar, haben wir gesehen, wie später zwei wichtige
Mahayana-Sutren dieses Buddha-Sein formalisiert haben, und zwar in
voller Kontinuität mit dem Alten. Dieses spezifische Buddha-Sein,
verstanden als ursprüngliches, wahres Sein jedes Menschen, haben
grosse Autoritäten des Zen – wir haben Hui-neng, Lin-tsi und Dōgen
befragt –, jeder auf seine besondere Weise, zu verwirklichen
angeleitet. Etwas zugespitzt kann man sagen, Zen sei nichts
anderes als der Versuch, das alte Buddha-Sein zu verwirklichen –
ein Resultat, das freilich nicht sehr überrascht.
Im Laufe der Jahrhunderte, die seit der Tätigkeit der grossen
Meister Lin-tsi und Dōgen vergangen sind, haben sich die von ihnen
ausgegangenen Schulen Rinzai und Soto vielfach überschnitten und
sind heutzutage nicht immer genau voneinander zu trennen. Ein
Haupteinschnitt in der Entwicklung des Zen erfolgte im 20. Jh.
durch die Propagierung, Verbreitung und Popularisierung des Zen im
Westen, was zu mancherlei Adaptationen, Veränderungen – und
Verwässerungen ! – führte. Östliche wie westliche Anhänger haben
die Warnung Dōgens missachtet und hemmungslos buddhistische
Zen-Erfahrung mit moderner und postmoderner Kultur vermischt, vor
allem mit psychologischen Theorien [16].
Eine Folge dieser transkulturellen Bestrebungen ist, unter anderem, die
Banalisierung des Zen als « nicht-gegenständliche Meditation ». Von
prajñā-pāramitā ist in diesen Kreisen kaum mehr die
Rede.
Hier stellen sich verschiedene wichtige Aufgaben, deren
Schwierigkeit vielleicht den kühnen Wunsch, sie anzupacken, im
Keim ersticken wird. Zum Beispiel gilt es zu prüfen, ob überhaupt
authentischer buddhistischer Zen, nach dem Vorbild von Lin-tsi
oder Dōgen, in der sich gegenwärtig bildenden materialistischen
Weltzivilisation noch denkbar ist ? Sind, ganz allgemein,
traditionsgebundene Formen von Spiritualität und Religion noch
tragbar ? Werden sie nicht als « intolerant » verschrien ? Weiter muss
man fragen nach dem Platz des authentischen buddhistischen Zen im
Konzert (andere urteilen : im grossen Bazar) der Religionen und
Spiritualitäten. Kann man authentischen Zen in Anspruch nehmen für
christliche Praxis (was häufig geschieht) oder für andere
Religionen ? Oder wird (muss ?) letzten Endes alles aufgehen in
einem konturlosen verschwommenen Magma von allgemeiner
« Spiritualität » ? Lautet das Ideal anders als « Ruhe, Stille,
Heiterkeit » ? Motto : « Man muss zen bleiben » ?
Ein zufällig in der Schweiz weilender japanischer Kaufmann
antwortete auf meine Frage nach dem Zen in Japan : « Zen ? das ist
für Touristen ! ».
[1]
Vgl. Etienne Lamotte, L'enseignement de Vimalakīrti. Louvain-Leuven, 1962. 317.
[2]
Takaschi James Kodera, Dōgen's Formative Years in China. London and Henley, 1980. 126.
[3]
Vgl. auch die schöne Vers-Übersetzung von R. Otto Franke,
Dhamma-Worte. Dhammapada des südbuddhistischen Kanons. Jena, 1923.
[4]
Ich zitiere den Oiriginaltext nach der Ausgabe von P. L. Vaidya, Mahayana-sūtra-saµgraha.
Darbhanga, 1961. 75ff. Die chinesischen Übersetzungen gehen oft paraphrasierend vor.
[5]
Vaidya (Anm. 4), 97.
[6]
Die Formel entspricht genau derjenigen, die wir oben in Dhammapada 279 getroffen haben.
[7]
Nach der deutschen Übersetzung von Raoul von Muralt (nach der englischen der Buddhist Society). Zürich, 1958. 37f.
[8]
Nach ebda (Anm. 3). 45.
[9]
Ich zitiere nach der französischen, eingehend kommentierten Übersetzung des hervorragenden Spezialisten
Paul Demiéville: Entretiens de Lin-tsi, Paris, 1972. Die Seitenzahlen im Text verweisen auf
diese Publikation.
[10]
Übersetzung von Takashi James Kodera, in Dōgen's Formative Years in China, London and Henley,
1980. 117-140.
[11]
Übersetzungen: Pierre Nakimovitch, Trésor de l'oeil de la Loi authentique. Genève, 1999.
Kosen Nishiyama and John Stevens, A Complete Translation of the Shō bō gen zō. Sendai, 1975ff.
[12]
Hee-Jin Kim, « The Reason of Words and Letters », Dōgen Studies, ed. by William R. LaFleur.
The Kuroda Institute, 1985. 79.
[13]
Takashi James Kudera (Anm. 2). 62.
[14]
Hoang-Thî-Bich (Thich Man-da-la), Etude et traduction du Gakudôyôjin-Shû, Recueil de l'application de
l'esprit à l'étude de la Voie, du Maître de Zen Dôgen. Genève, 1973. 51
[15]
Hoang Thî Bich (Anm. 13). 170f.
[16]
In dieser Hinscht ist die Schrift von Ernst Benz, ZEN in westlicher Sicht. Zen-Buddhismus - Zen-Snobismus.
Weilheim/Oberbayern, 1962, noch immer lesens- und beherzigenswert.