Carl-A. Keller


Que Dieu ouvre votre cœur à sa lumière
pour que vous sachiez quelle espérance
vous donne son appel (Eph. 1:18)


 
Professeur Carl-A. Keller, Le Mont sur Lausanne
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Stille und Leere im Zen-Buddhismus

Bisher unveröffentlichter Artikel, 2004

Dass im Zen Stille geübt wird, ist an sich nicht verwunderlich. Dem Wortsinn nach ist Zen ja nichts anderes als Meditation ; denn das Wort zen, abgeleitet von sanskrit dhyāna, über vulgär-indisch jhāna und chinesisch tchàn, bedeutet « Meditation ». In der Meditation wird ganz allgemein geschwiegen, es herrscht Stille. Lärm stört den Meditierenden. Doch diese Stille ist immer gefüllt, es ist dichte Stille, bewusst gelenkt auf eine bestimmte Ausrichtung hin. Stille Meditation in irgendeiner Tradition ist geprägt und beinhaltet durch die Gegebenheiten der betreffenden Tradition, ist traditionsträchtige Stille. Zen bildet keine Ausnahme. Und abgesehen von der stillen Meditation, wird im Zen doch auch sehr viel geredet : es werden regelmässig heilige Schriften rezitiert, und alle Zen-Meister haben ihre Schüler unterrichtet und haben, so wie seinerzeit der Buddha Shakyamuni, gepredigt. Diese Predigten sind unsere Quellen zum Verständnis des Zen. Manchmal haben zwar chinesische Meister mit Bewunderung auf den märchenhaften Laienbruder Vimalakīrti verwiesen, der einmal auf eine besonders knifflige Frage mit Schweigen geantwortet habe : ein Vorbild weisen Verhaltens gegenüber einem Geheimnis, das unser Erkennen übersteigt ? Die Meister vergessen, dass Vimalakīrti nicht mit Schweigen, sondern mit seinen wortreichen Predigten unzähligen Zuhörern zur höchsten Erkenntnis verholfen hat [1]. Immerhin, ein chinesischer Zen-Meister hat gesagt : « Heiliges Reden und heiliges Schweigen gehören beide zum Tun des Erwachten » [2].

Zen ist buddhistische Meditation, ist wesentlich bestimmt durch die dogmatischen Voraussetzungen des Buddhismus. Dies muss eingangs betont werden, da Zen, wie wir noch sehen werden, oft missverstanden wird als eine über-religiöse, undogmatische Meditationstechnik. Zen ist gewachsen innerhalb der buddhistischen Traditionen und wird immer Buddhismus bleiben. Die alten und die heutigen Meister des Zen berufen sich stets auf den Tathāgata, auf den « So-Gekommenen-und-Gegangenen », d.h. den Buddha, den « Erwachten » und sein « Gesetz », sein dharmā, seine Lehre und ihre Deutungen, auch wenn sie sich gelegentlich nicht gescheut haben, gewisse Elemente aus anderen Traditionen aufzunehmen und sich einzuverleiben, zum Beispiel aus dem chinesischen Daoismus. Unsere erste Aufgabe wird also darin bestehen, uns zu vergegenwärtigen, worum es im Buddhismus geht.

1. Wesen und Sein des Erwachten (Buddha)

In den ältesten uns überkommenen Dokumenten wird betont, ein Buddha sei im Grunde ein unfassbares Wesen.

Was er besiegt hat, besiegt ihn nicht ; / was er besiegt hat, folgt ihm nicht : / diesen Erwachten, der im Unbegrenzten weilt, / den Spurlosen, auf welcher Spur wollt ihr ihn führen ? – Für ihn gibt es nicht mehr das verfängliche Streben, / die Lust, die irgendwohin (d.h. zum Leben) führt : / diesen Erwachten, der im Unbegrenzten weilt, / den Spurlosen, auf welcher Spur wollt ihr ihn führen ? (Dhammapada, 179-180) [3].

Der Erwachte, wahres Sein jedes Buddhisten, lebt in der Welt, und ist doch nicht von der Welt ; er weilt im Unendlichen, im Unbestimmbaren, ist selber unendlich und unfassbar ; er hinterlässt keine Spur und wird nicht zu neuem Leben drängen. Völlig ungebunden, in der Welt und doch nicht in der Welt, schwebt er gewissermassen im leeren Raum. So formuliert es ein anderer Vierzeiler aus der eben zitierten, in der buddhistischen Welt weit verbreiteten Sammlung der Maximen des Erwachten :

Die Meditierenden geben alles preis, / verlangen nach keiner Bleibe. / Wie Gänse, die von einem Teich wegfliegen, / so verlassen sie ein Haus nach dem andern. – Sie sammeln nichts. Spärlich ist ihre Speise. / Ihr Aufenthalt ist das Leere (sūñña), das Zeichenlose, die völlige Befreiung. / Wie der Flug der Vögel im Raum, / so kann ihr Dahingehen nicht nachgezeichnet werden – Sie sind frei von ekligen Ausscheidungen und hangen nicht am Essen. / Ihr Aufenthalt ist das Leere, das Zeichenlose, die völlige Befreiung. / Wie der Flug der Vögel im Raum, / so kann ihr Dahingehen nicht nachgezeichnet werden (Dhammapada, 91-93).

Die Meditierenden, das sind diejenigen, die sati praktizieren, « vollkommenes Bewusstsein », die spezifisch buddhistische, kanonische Meditation, das siebente Glied auf dem achtgliedrigen Pfad der Erlösung, das Eingangstor zum samādhi, zur vollendeten « Konzentration » und zur Befreiung. Sie sind völlig heimatlos, schweben im Raum, wie Gänse und andere Vögel, in der Leere, dem « Zeichenlosen » und darum Unerkennbaren, in absoluter, nicht fixierbarer Freiheit. Sie existieren und existieren doch nicht. Das sagt auch ein weiterer Spruch :

Im Raum gibt es weder Weg noch Spur. / In der Aussenwelt gibt es keine suchenden Asketen (samaṇa). / Die Leute verlangen nach körperlicher Ausdehnung (papañca). / Die So-Gekommenen-und-Gegangenen (Tathāgatā, die Buddhas) sind ohne körperliche Ausdehnung (nippañcā) (Dhammapada, 254).

Die Buddhas leben im weglosen Raum und sie legen keinen Wert auf ihr körperliches Sein. Dafür aber zeichnen sie sich, wie der nächstfolgende Vierzeiler ausführt, innerhalb der unbeständigen, sich ohne Aufhören verändernden Welt dadurch aus, dass sie « kein Schwanken » (iñjitam) kennen (ibid. 255). Völlig frei von der Welt heilloser Zerfahrenheit, sind die Buddhas, dank ihrer nichtweltlichen, unveränderlichen Seinsart, ruhige Pole.

In diesen wenigen, ins buddhistische Altertum weisenden Vierzeilern ist bereits die vom Zen empfohlene und gelehrte Zen-Existenz umschrieben. Es gilt, in der als « leer », als unbestimmbar, als « zeichenlos » erfahrenen Welt, darin lebend und davon distanziert, die totale Freiheit eines « So-Gekommenen-und-Gegangenen » zu verwirklichen. Und das ist möglich, wenn der Jünger des Buddha die wahre Erkenntnis besitzt, d.h. prajñā (sanskrit) oder paññā (pali). Prajñā / paññā ist der eigentliche buddhistische Zentralbegriff, der auch im Zen die entscheidende Rolle spielt. Es ist prajñā, was den wahren Buddhisten als solchen kennzeichnet. Gewöhnlich wird prajñā, etwas irreführend, mit « Weisheit » wiedergegeben. Da es sich nicht um Weisheit im biblisch-europäischen Verständnis handelt, müsste man zum mindesten « absolute Weisheit » sagen, « absolut, losgelöst » im wörtlichen Sinne, indem sie von jeglicher Bindung an ein Subjekt und ein Objekt frei ist. prajñā / paññā ist absolutes, von allen Beziehungen gelöstes Erkennen aller Dinge, unter Aufhebung der Dualität von Subjekt und Objekt. In prajñā / paññā existiert kein Subjekt und kein Objekt ; es gibt nur leeres « Erkennen » der Dinge in ihrer absoluten Leerheit, in ihrer Seinslosigkeit. – Solche paññā erscheint auch im klassischen Dhammapada als ideale Existenz eines Buddha oder eines dem Buddha Nacheifernden :

Wenn einer in absoluter Erkenntnis (paññā) sieht, / dass alle Daseinsfaktoren (dhammā) bar sind wesentlichen Seins (anattā), / dann wird er des Leidens (dukkha) müde : / dies ist der Weg zur Reinheit (Dhammapada, 279).

Der Ausdruck anattā, « ohne wesentliches Sein, ohne Seinszentrum, ohne Seele », ist praktisch synonym mit dem « Leeren », sūñña, das wir im Dhammapada bereits angetroffen haben. Da alle Daseinsfaktoren, die das ausmachen, was wir « Mensch » nennen, kein wesentliches Sein haben, darum « leer » sind, hat der « Mensch » als Ganzes kein eigentliches Sein, er ist « leer ». Bei den Daseinsfaktoren handelt es sich um die fünf « Aggregate » oder « Ansammlungen » (skandha) von unsubstantiellen Faktoren wie Form/Materie, Empfindungen, Begriffe, formale Tendenzen und Bewusstsein. Diese « Ansammlungen » bilden das Fundament der buddhistischen Anthropologie. Die Aggregate sind unbeständig, leidvoll und bar wesentlichen Seins, darum ist das Phänomen, das wir « Mensch » nennen, ebenso unbeständig, leidvoll und bar wesentlichen Seins.

Diese Anthropologie und ihr spezifisches « Erkennen » sind die Basis des Zen. Sie gilt es zu « verwirklichen », bzw. zu « sein » – vorausgesetzt, dass man solche Verben in diesem Zusammenhang überhaupt verwenden darf.

2. Das Diamant-Sutra

In den späteren buddhistischen Lehrtexten, sūtra genannt, wird prajñā als höchste der sechs « Vollkommenheiten », pāramitā, also als prajñā-pāramitā ausführlich behandelt. Das « vollkommene absolute Erkennen », ist die Frucht von fünf vorausgegangenen Vollkommenheiten : Gabe, ethisches Benehmen, Geduld, Willenskraft und dhyāna, « Meditation ». prajñā-pāramitā ist die direkte Frucht der vollkommenen Praxis, vor allem der Meditation, dhyāna, « zen » – in der späteren Zen-Tradition werden Zen und prajñā, Meditation und Erkennen, eng verbunden, ja ohne weiteres identifiziert : Zen/dhyāna und prajñā bilden ein unlösbares Ganzes.

Verschiedene prajñā-pāramitā-sūtras haben nachweislich in der Geschichte des Zen eine grundlegende Rolle gespielt und spielen sie heute noch. Wir nennen ihrer zwei. Vor allem ist hier an das Diamant-Sutra, Vajracchedikā-prajñāpāramitā-sūtra zu erinnern [4]. Dieser Text fasst in bemerkenswert präziser Weise die Dialektik buddhistischen Seins- und Lebensverständnisses zusammen. Die dharmā, die Seinsfaktoren, und damit die Menschen, sind und sind doch nicht, weil « leer » ; weil sie nicht sind, darum « nennt » man sie einfach dharmā oder « Mensch ». Der Buddha ist Nicht-Buddha, darum sagt man « Buddha ». Das sichtbare, sensible Sein ist kein eigentliches, dauerndes Sein, es ist nur konventionelles, letztlich ungültiges, oberflächliches « Erkennen » und Benennen unwesentlichen Seins. Es kann zwar nicht einfach verneint und abgelegt werden ; denn wir leben in ihm und es erscheint uns als wirklich ; aber es muss als « Leerheit » erkannt und dementsprechend behandelt werden. – Ich greife ein bezeichnendes Fragment des Diamant-Sutra heraus ; formell handelt es sich um einen Dialog zwischen dem Buddha und dem Jünger Subhūti :

Was denkst du über dies, Subhūti : gibt es irgendeine Seinsweise (dharmā) in welcher der So-Gekommene-und-Gegangene zum unüberbietbaren vollkommenen Erwachen erwacht ist ? – Subhūti antwortete : Nein, Verehrungswürdiger, es gibt keine Seinsweise in welcher der So-Gekommene-und-Gegangene zum unüberbietbaren vollkommenen Erwachen erwacht ist. – Der Verehrungswürdige sagte : So ist es, Subhūti, so ist es ! Es wird nicht die geringste derartige Seinsweise erkannt noch erlebt. Darum sagt man « unüberbietbares vollkommenes Erwachen » !

Darüber hinaus ist zu sagen, Subhūti, dass diese Seinsweise sich immer gleich ist (sama) und dass es darin gar keinen Unterbruch gibt. Darum sagt man « unüberbietbares vollkommenes Erwachen ». Da es weder ein wesentliches Sein (ātman), noch ein lebendiges Wesen (sattva), noch eine persönliche Seele (jīva), noch eine Individualität (pudgala) gibt, kommt es dank günstiger Seinsfaktoren (dharmā) zum unüberbietbaren vollkommenen Erwachen. Und was ist der Grund davon ? Der So-Gekommene-und-Gegangene hat gelehrt : günstige Daseinsfaktoren, günstige-Daseinsfaktoren sind nicht-günstige-Daseinsfaktoren ; darum sagt man « günstige Daseinsfaktoren » (S. 86f).

Alle Seinsfaktoren sind leer, ohne eigentliche Substanz, sagte der alte kanonische Text. Das betont auch hier der Buddha, der Erwachte, und er überbietet noch das früher Gesagte. Es gibt keine das Erwachen begünstigende Seinsfaktoren, und dennoch braucht man sie, dennoch wirken sie. Aber sie sind nicht eigentlich : man erfasst sie, man benutzt sie – aber sie sind im Grunde nur « Namen ». Dass alle Seinsfaktoren nur « Namen » sind, aber als solche eben doch wirksam und notwendig, wird in Zen-Texten immer wieder betont.

3. Das Herz-Sutra

Das zweite prajñā-pāramitā-sūtra, das wir nennen möchten, ist das berühmte Herz-Sutra, prajñā-pāramitā-hṛdaya-sūtra [5]. Dieser kurze, aber höchst bedeutungsvolle Text wird in allen Schulen des Mahayana regelmässig rezitiert, meditiert und verinnerlicht, und so auch in den Schulen des Zen. Er bezieht sich auf Avalokiteśvara, einen der beliebtesten und meistverehrten aller Bodhisattva, d.h. virtuellen Buddhas. Der Bodhisattva befindet sich demnach « in tiefer prajñā-pāramitā », war also ganz versunken ins vollkommene absolute Erkennen, das – wie schon im Dhammaopada gesagt wurde – erlaubt, die Leerheit der Dinge zu schauen. In der Tat :

In tiefer prajñā-pāramitā schaut Avalokiteśvara hinab und sieht : fünf Ansammlungen (skandha) von Daseinsfaktoren, und diese « leer von eigener Natur » (svabhāva-śūnya[6].

Hier, oh Śāriputra, ist Form/Materie dasselbe wie Leerheit (śūnyatā), und Leerheit ist dasselbe wie Form/Materie. Form/Materie ist nichts anderes als Leerheit, und Leerheit ist nichts anderes als Form/Materie. Was Form/Materie ist, das ist auch Leerheit, und was Leerheit ist, das ist auch Form/Materie.

Dasselbe gilt von den Empfindungen, den Begriffen, den formalen Tendenzen und den Bewusstseinselementen (d.h. den übrigen skandha, welche die Erscheinung « Mensch » ausmachen).

Hier wird mit bemerkenswerter Energie die Identität von Leerheit und Daseinsfaktoren unterstrichen. Es gibt keine Leerheit ohne Daseinsfaktoren, und diese hinwiederum sind unwiderruflich Leerheit. Es besteht demnach im Grunde keine Möglichkeit, Daseinsfaktoren und Leerheit zu unterscheiden, noch viel weniger, sie zu trennen. Indessen zeigt die besondere Art des prajñā-pāramitā-Erkennens, dass die dharmā « in der Leerheit » weder entstehen, noch bleiben, noch vergehen ; sie sind eben « leer ». Daran erinnert der weitere Text des Herz-Sutra :

Hier, oh Śāriputra, sind alle Seinselemente (dharmā) durch Leerheit gekennzeichnet ; sie entstehen nicht, sie werden nicht gehemmt, sind fleckenlos, nicht fleckenlos, nicht fehlerhaft, nicht vollständig. Darum, oh Śāriputra, gibt es in der Leerheit weder Formen noch Empfindungen, noch Begriffe, noch formale Tendenzen, noch Bewusstseinselemente ; auch nicht Auge, Ohr, Nase, Zunge, Haut und Vernunft ; auch nicht die Wahrnehmung von Form, Ton, Geruch, Geschmack, Gegenstand und dharmā ; auch nicht die Grundlage des Sehvermögens, bis hin zur Grundlage des Denkens.

Durch prajñā-pāramitā wird also die wesenhafte Natur und absolute Wahrheit der Daseinselemente, und damit zusammenhängend der gesamten anthropologischen Erkenntnis des Buddhismus, in Frage gestellt. Sie hat nur vorläufige Wirklichkeit, als Behelfsmittel zum Leben in der empirischen Welt, als Weg zur Erlangung der eigentlichen Wahrheit, d.h. der Erlösung aus dem Irrtum. Konsequenterweise erweisen sich im Anschluss an diese Feststellungen auch die übrigen Grunddogmen des Buddhismus als ungültig, ja als nicht bestehend, weil leer. Dies betrifft sowohl die Kette der zwölf sich gegenseitig bedingenden Kategorien von Daseinsfaktoren (pratītya-samutpāda), wie auch deren Aufhebung, sowie die wohlbekannten vier « vornehmen Wahrheiten » mit denen der Buddha seine Predigttätigeit begonnen hat, und schliesslich ganz allgemein das Erkennen und Gelingen des Weges. Das gesamte buddhistische Wissen und Tun hat keinen letztgültigen Wert ; es ist Wissen und Tun, aber « leer ».

In diesem wichtigen, zeitlich dem Zen vorausgegangenen Text ist das Zen-Geschehen bereits aufs knappste zusammengefasst. Es geht darum, in der Meditation (dhyāna=zen) normales Sein und Bewusstsein so zu gebrauchen, dass ihre Leerheit, und damit ihre Vorläufigkeit offenbar werden. Dies ist das Ziel des Zen. Zenisten sagen darum : wenn man erwacht ist, tötet man den Buddha, den Erwachten, der nichts anderes war und ist als Führer zum Ziel.

Auch dass am Ende des Herz-Sutra die Rede ist von Übung und vom Gebrauch eines mantra, entspricht dem, was in der Zen-Praxis üblich ist : dort wird auch geübt, und mantra-artige Rezitationen begleiten das Tagewerk des Mönchs.

4. Bodhidharma

Zen baut auf diesen alten Traditionen auf und hat so eine lange Vorgeschichte. Entsprechend haben die Zenisten ihr Tun und Erkennen auf eine lange Traditionskette zurückgeführt, die – wie zu erwarten – beim historischen Buddha Shakyamuni ihren Anfang nimmt. Sie haben eine Liste von 28 indischen « Patriarchen » aufgestellt, in welcher die grossen Namen buddhistischen Denkens erscheinen wie Nagarjuna (2./3. Jh.) und Vasubandhu (4./5. Jh.), deren letzter ein gewisser Bodhidharma gewesen sein soll. Dieser Bodhidharma, so die Tradition, habe Indien verlassen und den Zen nach China gebracht. Er sei somit der erste von sechs chinesischen Patriarchen geworden.

Historisch kann über diesen Bodhidharma nicht viel ausgesagt werden. Hingegen schreibt ihm die Zen-Tradition vier Grundsätze zu, die immer wieder von Zenisten zitiert und als Quintessenz des Zen betrachtet werden. Es sind die folgenden :

a. Direkt auf den wahren ursprünglichen Geist zielen.

b. Des Menschen (Buddha-)Natur sehen und sein Buddha-Sein verwirklichen.

c. Eine besondere Weitergabe, jenseits der (traditionellen) Schriften.

d. Sich nicht auf Worte verlassen.

Die Grundsätze c und d scheinen eine direkte, wortlose Übermittlung der Wahrheit zu verlangen und den Gebrauch von Worten und autoritativen Schriften zu verwerfen. Vertreter des Zen erzählen gerne Anekdoten, etwa wie der Buddha seinem Schüler Kāshyapa die wahre Erkenntnis übermittelt habe, indem er ihm wortlos eine Blume zeigte und dieser sich vor ihr verneigte. Ähnliches wird erzählt von der Übermittlung der wahren Erkenntnis durch Bodhidharma an seinen ersten Nachfolger. Wäre also Zen eine wortlose Tradition ? Manche meinen es. Zen wird oft gerühmt als eine von allen Dogmen, Lehren, heiligen Büchern und Unterweisungen freie, wort- und bildlose Meditationstechnik. Doch werden, wie schon erwähnt, in allen Zen-Klöstern in liturgischen Feiern regelmässig die wichtigsten Sutren rezitiert – das Herz-Sutra kennt vermutlich jeder Zen-Mönch auswendig –, und die Zen-Meister haben immer ihren Schülern gepredigt, ihnen mündlich Richtlinien gegeben und Anfänger und Fortgeschrittene unterrichtet. Ohne Wortüberlieferung von Meister zu Schüler, und von als neue Meister vom Meister anerkannten Schülern zu neuen Schülern ist keine authentische Meditationslinie denkbar.

Die beiden erwähnten Grundsätze verlangen, dass man sich nicht auf die Texte verlasse, so heilig und unentbehrlich sie auch sein mögen, sondern dass man vor allem auf die unmittelbare Transmission der Wahrheit durch einen authentischen Meister achte. Das ist keineswegs eine besondere Originalität der Zen-Tradition : alle verinnerlichten, « mystischen » Traditionen betonen die Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit, eines Meisters, vor allem für die Weitergabe der Erkenntnis. Der Meister hat das Ziel erreicht, lebt gänzlich im Ziel des Weges, ist also « erlöst », steht über den wechselnden Dingen und kennt die Schwierigkeiten und Fallstricke des spirituellen Pfades. In allen verinnerlichten, « mystischen » Traditionen lehrt und leitet der Meister nicht nur mit Worten, sondern vor allem durch sein Sein : er ist der Weg und das Ziel. Die Kraft seines erlösten und erfüllten Seins schafft zunächst für seine Schüler einen geistesmächtigen Raum, und wenn der Schüler innerlich vorbereitet ist, überträgt sie ihm die letzte Wahrheit. Solche Transmission ist gemeint mit der « besonderen, direkten Weitergabe ». Alle bekannten, echten Zen-Meister haben sie praktiziert.

Die Grundsätze a und b umschreiben, worauf der Meister bei der Weitergabe seines Wissens und Seins achten muss : auf den « wahren ursprünglichen Geist » und auf die wahrhafte Buddha-Natur des Menschen. Wie alle religiösen und geistlich-mystischen Traditionen der Menschheit weiss auch der Buddhismus, dass dem natürlichen Menschen sein eigentliches Wesen, seine wahre Natur, verborgen ist. Der Mensch kennt sich selber nicht. Die religiöse und geistliche Lehre und Praxis – vor allem die Praxis ! – muss ihn sich selber bekannt machen, und die geistliche Wirkungskraft des Meisters muss ihm die Verwirklichung seines wahren Seins übermitteln. Beim Zen geht es um die Verwirklichung der verschütteten (bzw. verschlafenen) Buddha-Natur : die im Schlaf des Nichterkennens vergessene Buddha-Natur muss « erweckt » werden.

Die ursprüngliche, durch das Vergessen verdeckte Natur des Menschen besteht darin, ein Erwachter zu sein, einer, der um die Leerheit aller Daseinsfaktoren, aller Worte und aller Lehren und seiner selbst weiss, der diese Leerheit ist, der in seinem wahren Sein weder entsteht und geboren wird, noch als Individuum lebt und vergehen wird. Im Zen wird dieses wahre Buddha-Sein im Anschluss an andere buddhistische Traditionen gerne als « Geist » bezeichnet. Es ist der « Geist », der sich in der Meditation reinigt, sich von allen Belastungen und Belästigungen befreit, so zu prajñā-pāramitā wird, zu absoluter, in jeder Hinsicht gelöster, absolut freier Erkenntnis, und der so seine Buddha-Natur verwirklicht. Dabei muss man freilich beachten, dass « Geist » in einem spezifisch buddhistischen Sinn verstanden wird, als Rezeptakel aller sinnlichen Erfahrungen.

Auch wenn die vier Grundsätze des Zen nicht von einem historischen Bodhidharma stammen sollten, so geben sie doch treffend das Wesen dieser Tradition wieder : die direkte Initiation durch den Meister, aufgrund adäquater innerer Bereitschaft des Schülers.

5. Hui-neng

Entscheidend für die endgültige Gestaltung des Zen wurde der sechste chinesische Patriarch, Hui-neng, 638-713. Er war eine historische Persönlichkeit, auch wenn seine Person von Legenden umrankt ist. Er war ein Meister, dessen Lehre, Ansprachen und Begegnungen mit Suchenden, uns dank ihrer Wiedergabe durch seine Schüler zugänglich sind. Hui-neng ist vor allem bekannt als Künder eines « plötzlichen Erwachens », im Gegensatz zu andern Buddhisten, die einem allmählich fortschreitenden, « graduellen » Erwachen den Vorzug gaben. Er ist somit ein Vertreter der « südlichen Schule » des Zen. Die Kontroverse zwischen den Verteidigern des plötzlichen und des graduellen Erwachens, zwischen der « südlichen » und der « nördlichen » Schule, hat sich in der buddhistischen Welt während Jahrhunderten hingezogen. Hui-neng betont allerdings, man dürfe den Gegensatz nicht verabsolutieren. In seinen Reden bezieht er sich ausdrücklich auf die traditionellen Schriften, vor allem das Diamant-Sutra, die es nicht nur zu lesen und zu rezitieren, sondern im eigenen Sein zu verwirklichen gilt.

Das plötzliche Erwachen bedingt Arbeit des Schülers an sich selber. Der Schüler muss das Seine tun, bevor ihm das Geschenk des Erwachens zuteil wird, und muss auch nachher weiter an sich arbeiten. Er muss die ethischen Prinzipien des Buddhismus respektieren und sein äusseres Leben danach richten, muss die Schriften eifrig studieren, vor allem das Diamant-Sutra. Hui-neng wird nicht müde, seine Schüler zu ermahnen, keine Mühe zu scheuen um in sich die richtige Voraussetzung zu schaffen. « Alles hängt von euch ab ! » ruft er ihnen zu. Wenn sie dann dem Meister die richtige Frage stellen und dieser ihnen das entscheidende Wort mitteilt, wird ihnen das « plötzliche Erwachen » zu Teil.

Im Zusammenhang mit unserem Thema « Schweigen und Leere im Zen » ist besonders bedeutsam, dass der eigentliche Begründer des Zen vehement gegen eine falsche, ketzerische Art zu meditieren polemisiert :

Gelehrte Zuhörer, wenn ihr mich über die Leere reden hört, so dürft ihr nicht in den Irrtum verfallen, die Leere sei ein leerer Raum. Das wäre die ketzerische Lehre von der Verneinung aller Dinge. Wenn einer sich einfach niedersetzte und in seinem Geiste alles verneinte, wäre dies eine Leere, entstanden durch Gleichgültigkeit.

Gelehrte Versammlung, die grenzenlose Leere des Universums ist fähig, Myriaden von Dingen verschiedener Art und Gestalt in sich zu vereinigen, wie Sonne, Mond, Sterne, Flüsse, Welten, Quellen, Bäche, Gebüsche, Wälder, gute und schlechte Menschen, Güte und Bosheit, die Welt der Götter, Höllen, Ozeane und die höchsten Berggipfel. Der äussere Raum umfasst dies alles, und ebenso steht es um die Leere unserer Natur.

Wir sagen, unsere wahre Natur sei unendlich, weil sie alle Phänomene umfasst und weil alle Phänomene in ihr sind. Wenn wir die Güte oder Bosheit anderer Leute sehen und davon weder angezogen noch abgestossen werden und wir nicht daran hangen, so ist der Zustand unseres Geistes so leer wie der Raum. so dass unsere wahre Natur ebenso leer ist wie der äussere Raum. Daher nennen wir das Wesen des Geistes « gross » (mahā).

Das, wovon die Unwissenden nur reden, das verwirklicht der Weise in seinem Geiste.

Gelehrte Versammlung, es gibt unvernünftige Leute, die sich damit begnügen, sich einfach hinzusetzen und in ihrem Geiste alles zu verneinen und abzulegen. Sie versuchen, an überhaupt nichts zu denken und meinen, so seien sie « gross ». Solches Tun ist ketzerisch ; aber es ist sehr schwierig, ihnen das klar zu machen.

Verehrte Zuhörer, ihr sollt wissen, dass der Geist ein grosses Fassungsvermögen besitzt, denn er umfasst das ganze dharmadhātu (die Sphäre, wo das Gesetz herrscht, d.h. das Universum). Wenn wir uns seiner bedienen, können wir alles erkennen, aber wenn wir ihn in seiner ganzen Tiefe benützen, können wir alles wissen. Alles in einem und alles in allem. Wenn unser Geist ohne Hindernisse arbeitet und frei ist zu « kommen » und zu « gehen », dann ist dies prajñā (das ergibt mahā-prajñā-pāramitā)

[...]

Sprecht nicht immer von « Leere », ohne sie zu verwirklichen ! [7]

Die wahre Natur des Menschen, sein Leer-Sein, ist kein Vakuum : Sie ist die Fülle der Welt und ihrer zahllosen Phänomene, aber eben die Fülle der Welt in ihrer Leerheit. Dass in unserem Text beiläufig zwischen « Aussen » und « Innen » unterschieden wird, darf nicht missverstanden werden ; denn das « Aussen », die Erscheinungswelt, ist ja identisch mit dem « Innen », mit der Leere, der Buddha-Natur. In der wahren Natur des Menschen sind alle Dinge leer ; darum entstehen sie nicht, leben nicht und vergehen nicht. Alles Geschehen findet in der Innenwelt statt/nicht statt, in der Buddha-Natur.

Im zitierten Abschnitt warnt der Meister seine Schüler vor drei möglichen Fehlentwicklungen.

a. Angesichts der Schwierigkeiten der Praxis kann es bei einer rein intellektuellen Beschäftigung mit der Theorie der Leere bleiben : « Sprecht nicht immer von der Leere, ohne sie zu verwirklichen ! » Blosses Reden führt nirgendwo hin und ist nichts als müssige Unterhaltung. Es kommt aufs Tun an, die Theorie muss Praxis sein, die Leerheit muss Leben sein. – Erinnern wir daran, dass diese Notwendigkeit für alle ernste Beschäftigung mit religiösen, spirituellen und mystischen Dingen gilt.

b. Die Leere darf nicht hypostatisiert werden, sie ist nicht ein Absolutes, vor allem nicht leerer Raum. Wenn sie das wäre, stände man vor einem blossen Nihilismus, und dieser ist für Hui-neng das Gegenteil der Wahrheit. Darum will er nicht den Eindruck wecken, « Leere » sei für ihn der einzig wichtige Begriff, der keiner weiteren Erklärung bedürfe. Huin-neng ist, wie er selber betont, ein entschlossener Vertreter der prajñā-pāramitā, der absolut freien Erkenntnis, ohne Absolutes und ohne Subjekt und Objekt, wobei die Dinge leer sind und die Leere immer in den Dingen. Andere Meister werden mit Recht sagen, die Leere selber sei « leer ».

c. Die dritte Warnung war offenbar damals wie heute aktuell : manche Anhänger begnügten sich damit, im Zen-Sitz (za-zen) nichts anderes zu tun, als alle Gedanken und Gefühlsbewegungen abzulegen, nichts zu denken, und so in sich ein gedankliches Vakuum zu schaffen. Für Hui-neng ist dies nicht nur « unvernünftig », sondern « ketzerisch », eine schlimme Abweichung von der Wahrheit. Denn die prajñā-pāramitā-Leere ist etwas ganz anderes. – Man hat manchmal den Eindruck, dass bei der modernen Vorliebe für « nicht-gegenständliche Meditation », die man als « Zen » interpretiert, diese Warnungen überhört werden.

Es sei uns in diesem Zusammenhang ein kleiner Exkurs erlaubt. Es kann nicht bezweifelt werden, dass die von Hui-neng abgelehnte alles verneinende Meditation, die das Erfahren einer tiefen Stille bezweckt, auf den inneren Menschen beruhigend wirkt und auch den Körper völlig entspannt. Daher ihre Popularität in der gehetzten, unruhigen Modernität. Vermutlich haben indessen die Zeitgenossen von Hui-neng, welchen dieser Ketzerei vorwirft, ihr Tun mit der buddhistischen Tradition begründet. Buddhistische Meditation besteht nämlich aus zwei Elementen oder Etappen, die sich ergänzen und die der Buddhist nicht auseinanderreissen sollte : aus « Beruhigung », śamatha (pali : samatha), und « Einsicht » (in die wahre Natur des Menschen), vipaśyana (pali : vipassana). Alle historischen Lehrer des Buddhismus haben betont, dass man nicht mit Hoffnung auf Erfolg zur « Einsicht » schreiten kann, ohne vorherige « Beruhigung », die gewissermassen das Mittel ist für die Erlangung von « Einsicht ». Die von Hui-neng apostrophierten « Ketzer » haben sich mit einer falsch verstandenen « Beruhigung » begnügt. Um zur « Beruhigung » zu kommen, werden nämlich in umfangreichen Lehrbüchern mancherlei Methoden vorgeschlagen. – Für Hui-neng ist « Beruhigung » identisch mit prajñā-pāramitā. Mit prajñā-pāramitā gewinnt er nämlich « Einsicht » in die Natur des Geistes :

Verehrte Versammlung, wenn wir mittels prajñā-pāramitā Einsicht erlangen in unsern Geist, kommen wir innerlich und äusserlich zum Erwachen und erlangen die Buddha-Natur. Unseren Geist erkennen, bedeutet Befreiung erlangen. Befreiung erlangen, bedeutet höchstes prajñā-samādhi erreichen, welches « Gedankenleere » (intuitive Einsicht) ist. Was ist « Gedankenleere » ? « Gedankenleere » (intuitive Einsicht) bedeutet : alle dharmā (sowohl Dinge wie Wahrheiten) mit einem von Anhaften freien Geist betrachten. Wenn in Tätigkeit, dringt er überall hin und stockt nirgends [8].

Hui-neng erwartet von seinen Schülern stetige Anstrengung im Blick auf prajñā-pāramitā und Einsicht. Man gewinnt den Eindruck, dass diese Tätigkeit mit Sicherheit schliesslich zum « plötzlichen Erwachen » führt. Dem ist indessen nicht so. Die Berichte über seine Begegnungen mit genügend (oder auch ungenügend) vorbereiteten Schülern zeigen, dass seine Person mit ihrem Sagen den entscheidenden Anstoss gibt. Oft bekennt ein Schüler, dass er trotz ernster Bemühung das Erwachen nicht errungen habe. Daraufhin spricht der Meister ein klärendes Wort, oft in Form eines Gedichtes, und der Fragende ist erwacht. Ohne es ausdrücklich zu sagen, respektiert Hui-neng das Prinzip der direkten Übertragung der Wahrheit, von Meister zu Schüler.

6. Lin-tsi (oft : Lin-chi geschrieben)

Gleichzeitig mit Hui-neng und auch nach seinem Tode haben sich in China mehrere Schulen gebildet – man hört von fünf Schulen –, die ähnlich begründete Meditationsformen pflegten. Indessen trägt der bedeutendste Erbe der Lehre des sechsten Patriarchen den Namen Lin-tsi (gest. 866 oder 867). Seine Deutung des Buddhismus und sein Zen sind uns bekannt durch Predigten, Unterweisungen und Begegnungen mit Schülern, allerhand Anekdoten, Äusserungen, die von Anhängern sorgfältig aufgezeichnet worden sind [9].

Auch Lin-tsi ist, wie sein Vorgänger Hui-neng, ein Vertreter des « plötzlichen Erwachens ». Auch er hat, wie Hui-neng, die traditionellen Schriften und Abhandlungen durchforscht (S. 90 ; 115) ; er kennt die buddhistischen Dogmen wie die Lehre von den drei « Körpern » des Buddha (S. 58 f ; 123 usw.), die Lehre von der kausalen Abhängigkeit (pratītya-samutpāda, S.81), und auch für ihn ist der Buddha, wie im Diamant-Sutra, ein « Name » (S. 67) und er weiss, dass die Namen und ihre Buchstaben leer sind (S. 103). Auch er kennt die drei traditionellen « Fahrzeuge » (d.h. die yāna « Fahrzeuge » der Hörer, der Einzelbuddha und der Bodhisattva, S 162) und er ist wohl informiert über ihre Unterschiede, auch er identifiziert Geist, Buddha, Gesetz und Weg (S. 117), und lehnt eine stille Meditation ab, die sich begnügte mit dem Ablegen aufkommender Gedanken :

Es gibt gewisse Mönche mit geschorenem Haupt, die nach einem guten Essen sich in dhyāna hinsetzen, um Kontemplation zu üben. Sie packen jeden unreinen Gedanken, um sein Erscheinen zu verhindern ; sie suchen die Ruhe, weil der Lärm sie stört. Das ist ein ketzerisches Vorgehen. Ein Meister-Patriarch (es handelt sich um einen berühmten Schüler von Hui-neng) hat gesagt : « Den Geist auf die Ruhe lenken, ihn in die Höhe heben, um die Aussenwelt zu betrachten, ihn in sich zu sammeln, um ihn vom Äusseren zu befreien, ihn starr werden lassen, um volle Konzentration zu erlangen » – das alles ist nichts als Fabrikation von karman (das es im Gegenteil zu tilgen gälte) (S. 94).

Und noch deutlicher :

Ehrwürdige ! Wenn ich sage, man dürfe das Gesetz (dharmā) des Buddha nicht « aussen » suchen, verstehen mich die Lehrlinge nicht und meinen, sie müssten es in ihrem Innern suchen. Darum setzen sie sich hin, lehnen sich gegen eine Wand und verharren regungslos, in Meditation versunken, die Zunge gegen den Gaumen gepresst. Das halten sie für die Methode der Patriarchen und für das Gesetz des Buddha ! Welch grosser Irrtum ! Wenn man regungslose Reinheit für die Wahrheit hält, dann unterwirft man sich dem Nichterkennen als seinem Herrn und Meister (S. 131).

Regungslos dasitzen und nichts denken, das ist das, was man lernt in der Schule des Nichterkennens, des Irrtums. Die Schule der Wahrheit kann mit dieser Praxis nichts anfangen. Für sie ist stille, jeden Gedanken vermeidende Meditation nicht nur nutzlos, sondern schädlich. Man muss auf sie verzichten und das « plötzliche Erwachen » erwarten.

Lin-tsi betont, er diskutiere mit seinen Schülern Tag und Nacht und unterrichte sie (S. 130), aber sie verstünden ihn nicht. Der Grund : sie nehmen seine Worte zu ernst ; denn seine Worte sind« leer », nicht anders als alle Schriften und Lehren der Buddha und Patriarchen :

Ihr, meine Anhänger ! Nehmt das, was ich euch sage, nicht ernst ! Warum nicht ? Meine Worte entbehren jeder beweisenden Begründung ; sie sind nur Figuren die man für einen Augenblick in die Luft zeichnet, so wie man zu Lehrzwecken farbige Bilder malt und andere Illustrationen verwendet (S. 160).

Lin-tsi versucht nicht, sorgfältig Thesen zu formulieren, die gewissermassen als gültige Dogmen und ihre Auslegung Anerkennung finden könnten. Er spricht und handelt spontan, im Bewusstsein der Leerheit aller Worte und Dinge. Bei ihm kommt es immer auf den spontan erfahrenen Augenblick an. Das erwartete Erwachen ist ein Augenblicksgeschehen ; es gibt niemals ein Erwachen, wenn es nicht in einem Augenblick geschieht, so wie bei Hui-neng das Wort des Meisters plötzliches Erwachen bewirkt.

Noch konsequenter als Hui-neng verkündet Lin-tsi seine Überzeugung, dass der Mensch von jeher und unwiderruflich ein Buddha ist, und dass auch Geist und Gesetz Buddha sind, natürlich in ihrer « Leerheit ». Für Lin-tsi ist diese Buddha-Leerheit der « wahre Mensch », für den er eine neue Bezeichnung einführt : der wahre Mensch ist « ein Mensch ohne Geschäft », ein Mensch ohne Zweck und Plan, der in jedem Augenblick einfach dieser Augenblick ist – eine Lehre, die direkt an das daoistische Ideal des wu-wei hinweist, das Ideal des « Nichthandelns », das in freier Spontaneität einfach « ist », das auf den Moment vertraut und nicht-handelnd handelt.

Das virtuelle Buddhasein soll erwachen. Das Erwachen wird nicht erreicht durch Forschen, Studium und Meditation : es muss spontan erfolgen. Daher die eigenartige Methode Lin-tsis, die darin besteht, den zu Erweckenden zu schockieren. Lin-tsi schockiert auf jede denkbare Weise : mit einer unflätigen, den Buddha, die Patriarchen und alles Verehrungswürdige in den Schmutz ziehenden Sprache (die Buddha und Patriarchen sind « das Loch einer Latrine » bzw. das, was man heute WC-Papier nennt) ; er produziert bei jeder Gelegenheit ein unanständiges lautes Rülpsen, verlangt gebieterisch und unter Gewaltandrohung eine sofortige Antwort auf eine unmögliche Frage und spart nicht mit Schlägen und Beleidigungen – wie bereits sein Lehrer an ihm verfahren hatte. Vernünftiges Reden und Denken kann nur das Nichterkennen verstärken, das Nichterkennen, das die wahre Natur des Menschen, sein Buddhasein, verdeckt. Versuche, mit Argumenten zu überzeugen, müssen immer fehlschlagen. Die einzige Hoffnung besteht im Schock, den ein Kandidat erfährt, in einem unerwarteten Entsetzen, im Erleiden eines gewalttätigen Umbruchs. Dann kann es geschehen, dass einer in einem Augenblick seine Buddha-Natur realisiert :

Da war ein Dekan namens Ting, der kam, um sich vom Meister (Lin-tsi) beraten zu lassen. Er fragte, welches die grosse Idee des Buddhismus sei. Der Meister erhob sich von seinem Bänder-Sitz, packte den Frager, gab ihm eine Ohrfeige und liess ihn dann los. Ting blieb starr stehen. Die Mönche an seiner Seite sagten ihm : « Dekan Ting, warum grüssen Sie nicht ? » Kaum hatte Ting gegrüsst, erlangte er das grosse Erwachen (S. 194).

Die Frage Tings war intellektueller Art, sie verlangte nach vernünftiger Reflexion, Definition und ausführlichem Kommentar. Alle Fragen dieser Art gehen grundsätzlich an der Wahrheit vorbei ; denn die Wahrheit ist nicht Vernunft-Logik. Darum folgt unvermittelt Lin-tsis Schock-Methode, hier mit unbegründeten Gewalthandlungen. Der misshandelte Frager kann nur starr stehen bleiben. Glücklicherweise wird er ermuntert, für die Gewalt dankend den Täter zu grüssen, was er auch tut : er nimmt den Schock an, ergibt sich dem Meister – und wird zur Wahrheit erweckt.

Die Nachfolger Lin-tsis haben diese Schock-Methode zwar gelegentlich nachgeahmt, aber nicht zu verallgemeinern gewagt. Einer so starken und ganz offenbar in wirklichem prajñā-pāramitā lebenden Persönlichkeit wie Lin-tsi konnte man sie gestatten. Aber nicht jeder nachfolgende Meister war ein Lin-tsi. Als Ersatz für den vom Lehrer verabreichten heilsamen Schlag oder Schock hat man das kōan eingeführt, die lang andauernde krampfhafte Konzentration auf ein « vorliegendes Dokument », ein kōan, das, manchmal in geheimnisvoller Verschlüsselung, die Wahrheit des Erwachens enthält. Diese « vorliegenden Dokumente » bestanden vor allem in Anekdoten über die Begegnungen von Meistern mit Schülern – die oben wiedergegebene Begegnung Lin-tsis mit dem Dekan Ting ist ein Beispiel, deren es bei Lin-tsi noch weitere gibt. Auch manches, das von Hui-neng und anderen Vorgängern Lin-tsis erzählt wird, trägt den Charakter eines kōan, d.h. eines « vorliegenden Dokumentes ». Lin-tsi hat also gewissermassen kōan geliefert, sie aber noch nicht benützt als Mittel zum Erwachen.

Als dann, um 1200, die Lin-tsi-Schule nach Japan kam (dort heisst sie, in japanischer Aussprache des Gründernamens : Rin-zai) wurde das kōan geradezu zu ihrem eigentlichen Kennzeichen. Der unentwegte, immer erfolglose, zu verzweifelter Versessenheit treibende vergebliche Versuch, das unlösbare kōan zu lösen, um zum Erwachen zu gelangen, führt schlussendlich zu einer Art Verzweiflungs-Schock, der die stets vorhandene, aber völlig verdeckte und verkannte Buddhanatur freilegt. Die Lösung des kōan besteht genau im Aufbrechen der Buddha-Natur. Es gibt im Rahmen der Rin-zai-Schule im Grunde keine andere « Lösung » des kōan. Im Blick auf die Entwicklung der kōan-Methode und ihren Gebrauch heute kann man sich übrigens fragen, ob die in ihr geschehene strenge Ritualisierung der Rinzai-Meditation nicht im Gegensatz steht zu Lin-tsis ungehemmter Spontaneität.

7. Dōgen

Gegen Ende des 12. Jahrhunderts wurde die Rinzai-Schule in Japan eingeführt durch den Japaner Eisai (1141-1215) ; dieser hatte sich in China in der Lin-tsi-Tradition ausbilden lassen. Andere Schulen des Buddhismus waren schon früher nach Japan gekommen. In Japan war also Zen eine Neuigkeit. Unter den vornehmen jungen Männern, die sich damals dem Buddhismus zuwandten, befand sich Dōgen (1200-1253). Im Alter von dreizehn Jahren wurde er Mönch im Kloster Hiei, damals ein Zentrum des japanischen Buddhismus. Er praktizierte dort die damals vorherrschende Tendai-Methode und lernte später, in einem andern Kloster, auch den Rinzai-Buddhismus kennen. Ein « grosser Zweifel » liess ihm keine Ruhe : wenn alle lebenden Wesen von jeher die Buddha-Natur besitzen, wie es die Lehre des Buddha verheisst, warum muss trotzdem jeder Mensch erst mit Mühe zur Buddha-Natur « erwachen » ? Niemand war fähig, ihm diesen Zweifel zu klären ; darum machte sich der junge Mönch entschlossen auf die Suche nach dem « wahrhaften Meister ». Aber in Japan konnte er ihn nicht finden.

So reiste Dōgen im Jahre 1223 nach China. Dort studierte er zunächst in verschiedenen Klöstern weiterhin die Methode Lin-tsis, bis er im Jahre 1225 in der Person des Meisters Ju-ching, einem Vertreter der Tsao-tung-(jap. Sō-tō)-Schule des Zen, den ersehnten wahren Meister fand. Diese Schule beharrte energisch auf zwei wichtigen Prinzipien : absolute Treue zu den heiligen Schriften, die es unentwegt zu studieren gilt, und unbedingtes Festhalten an langdauerndem meditativem Sitzen (jap. za-zen). Die Schüler Ju-chings mussten stundenlang, oft beinahe nächtelang, sitzende Meditation üben, und wehe, wenn sie dabei einschliefen ! Der Meister zögerte nicht, den Schlaf als Zeitverschwendung zu beschimpfen und die Schläfer wenn nötig mit Gewalt aufzuwecken. Die Meditation bezweckte, wie Ju-ching erklärte, « Körper und Geist fallen zu lassen », und Körper und Geist konnte man « fallen lassen » in meditativer Konzentration auf einen einzigen Punkt. Dies Vorgehen entspricht der traditionellen buddhistischen śamatha-, d.h. Beruhigungs-Meditation, in der man sich ebenfalls auf einen Gegenstand konzentriert..

Während seines Studiums bei Ju-ching schrieb Dōgen seine Gespräche mit dem Meister und seine Beobachtungen über sein Verhalten auf. Daraus ist ein höchst bedeutsames und lehrreiches Dokument entstanden über die Praxis des Zen in China im Anfang des 13. Jahrhunderts [10].

Im Jahre 1227 kehrte Dōgen nach Japan zurück und lehrte, zunächst in verschiedenen Klöstern, den Zen seines Meisters, eben den Zen Sō-tō, bis er im Jahre 1245 das Kloster Eiheiji, « Ewiger Friede », in der Provinz Kyoto gründete, wo er bis zu seinem Tode 1253 wohnte und das bis heute das spirituelle Zentrum des Sō-tō geblieben ist.

Nachdem Dōgen schon früher verschiedene Traktate veröffentlicht hatte, fasste er am Schluss seines Lebens seine zwischen 1231 und 1253 verfassten Predigten und Traktate zusammen in seinem Hauptwerk, dem umfangreichen Shō-bō-gen-zō, einem der wichtigsten Dokumente japanischen Denkens [11]. So wie sich seinerzeit im Chinesen Lin-tsi die Freiheit der Zen-Erfahrung durch unbekümmertes spontanes Handeln äusserte, so führte dieselbe Freiheit den Japaner Dōgen zu kreativer Handhabung des Denkens und der Sprache. Das zeigt sich vor allem im Gebrauch des kōans, das von Dōgen auch verwendet wird, das aber bei ihm, im Gegensatz zur Praxis des Rinzai, mancherlei sprachliche Deutungen zulässt :

Für Dōgen ist bezeichnend, dass er einen Begriff, eine Metapher oder ein Bild oft wiederholt und bei diesen scheinbar überflüssigen Wiederholungen die Wortfolge ändert, die Syntax verkehrt, verschiedene Sinngehalte nennt, neue Ausdrücke schafft und vergessene Symbole wiederbelebt. Diese sprachlichen Vorgaben sind nicht Bausteine für ein neues religiöses oder philosophisches System, es handelt sich vielmehr um konzentrische Wellenkreise, die vom zazen ausgehen und zum zazen zurückkehren, und die Dōgens grundlegenden Glauben an die absolute Leerheit widerspiegeln und verstärken. Er betrachtet diese sprachlichen Operationen als die eigentliche Tätigkeit des zazen, als nichts anderes als Nicht-Denken. So wird die Sprache des alten kōan-Paradigmas zur lebendigen Kraft, die sich auswirkt als « kōan der Verwirklichung », indem, was besonders wichtig ist, kōan zu zazen wird und zazen zu kōan [12].

In der Meditation wird kōan zu zazen und zazen zu kōan. Während in der Lin-tsi-Schule das kōanwirkt, indem der Meditierende es sich gewissermassen einverleibt, indem er sich mit ihm identifiziert und es so zu seinem Instrument macht, wird das kōan bei Dōgen zu zazen, zu Meditation, und weil zazen identisch ist mit prajñā-pāramitā, dem « absoluten Erkennen », schenkt es von sich aus die Befreiung, das Erwachen, als freie Gabe. Auf diese Weise hat Dōgen auch die Antwort gefunden auf sein persönliches kōan, auf den « grossen Zweifel », der ihn von Anbeginn an geplagt hatte : warum müssen wir nach Erwachen streben, da doch der Buddha gesagt hat : « Alle Wesen haben die Buddha-Natur, und der Tathāgata ist ewig und verändert sich nicht » ? Die Lösung ist, in Umkehrung der Regeln der chinesischen Grammatik : der Buddha hat gesagt : « Alle Wesen sind Buddha-Natur, und der Tathāgata ist ewig, nicht-existierend/exisitierend, und er verändert sich » [13]. Das heisst : wir sind Buddha-Natur und sind es nicht, sind Tathāgata und sind es nicht, und wir verändern uns. Diese Neudeutung des Buddha-Wortes trifft sich, wie man leicht sieht, mit den Aussagen des Diamant-Sutra und der Grundwahrheit der prajñā-pāramitā, von der sich Dōgen niemals entfernt.

Bei Dōgen ist die Stille der kōan-Meditation nicht krampfhaft beängstigend wie in der Rinzai-Tradition, sie ist schöpferisch-befreiend. Dieser befreiende, schöpferische, in der Leerheit aller Phänomene begründete und Veränderung ermöglichende zazen war denn auch vielfach das Ausgangserleben künstlerischen Handelns, in Kalligraphie, Tee-Zeremonie, Blumen-Arrangement, Bogenschiessen usw. Die Freiheit der Leerheit aller Dinge und seiner selbst ist Voraussetzung befriedigenden ästhetischen Handelns.

Allerdings : das schöpferische zazen kann kaum das Resultat eigenmächtigen Vorgehens sein. Man kann es nicht auf eigene Faust erzwingen. Dōgen ist in dieser Hinsicht unnachgiebig : die Leitung durch einen Meister ist unerlässlich, und zwar durch einen kompetenten, wahrhaftigen Meister, wie er selber einen gesucht und mit viel Mühe und Geduld auch gefunden hat. Diesem Meister muss man unbedingtes Vertrauen schenken, muss sich ihm vorbehaltlos übergeben :

Verstehen des Gesetzes (d.h. der Buddha-Lehre) und Erlangen des Weges hangen ab von der Energie des Meisters. Eines müssen wir wissen : wenn wir einen Zen-Meister um Rat fragen, dürfen wir nicht ihn anhören und gleichzeitig seine Erklärungen unsern eigenen Ideen anpassen. Wer so vorgehen wollte, kann die Lehren des Meisters niemals verstehen. Wenn wir einen Meister über das Gesetz befragen, müssen wir Leib und Geist reinigen, unser Sehen und Hören beruhigen, und die Aufmerksamkeit ganz auf das Lehren des Meisters richten und es empfangen, ohne irgendeinen anderen Gedanken damit zu vermengen. Leib und Geist müssen ganz mit Leib und Geist des Meisters eins sein, so wie man Wasser von einem Gefäss in ein anderes giesst. Nur wenn man so vorgeht, kann man die Lehren des Meisters empfangen [14].

Diese Unterweisung wirft alle modernen Hermeneutik-Theorien über den Haufen. Es geht nicht darum, einen Text, eine Aussage, eine Lehre, aus den Denk-Kategorien des Autors in die unsrigen zu übersetzen, so wie z.B. gewisse Theologen das mythologisch fundierte Denken biblischer Autoren zu « entmythologisieren » trachteten. Es geht darum, das eigene Denken völlig zu verneinen, es als total ungültig zu vergessen, « Leib und Geist fallen zu lassen », nicht mehr getrennt vom Meister zu existieren, sondern ganz mit dem Meister « eins zu sein ». Wenn man sich « in den Meister ergiesst wie Wasser von einem Gefäss in ein anderes », wird der Meister ebenso seine Lehre, und vor allem sein Sein, wie Wasser in den Schüler giessen. Dies ist die direkte Transmission, nicht bloss der Lehre – diese ist ja nur ein Behelf –, sondern der Verwirklichung der Leerheit aller Dinge, der prajñā-pāramitā, des Erwachens ; es ist die direkte Weitergabe der Wahrheit, von der die Grundsätze Bodhidharmas handeln. Dōgen sagt einmal, er sei erwacht, als er Leib und Seele habe fallen lassen.

Dies ist die Realität des authentischen Zen. Sie hat nichts zu tun mit moderner « nicht-gegenständlicher Meditation ». Nebenbei sei bemerkt, dass durch das « Fallenlassen von Leib und Geist » die innere Stille des Meditierenden vollkommen, dass sie grenzenlos wird, jedoch erfüllt von der Wahrheit des Menschen und der Welt.

Als erfahrener Meister gibt Dōgen noch genauere Weisungen :

Wer sich im Buddha-Weg üben will, muss in erster Linie an ihn glauben. An den Buddha-Weg glauben, heisst glauben, dass man selber von jeher auf dem Buddha-Weg war, dass man nicht Opfer der Nichterkenntnis geworden ist, dass man sich nicht falschen Begriffen hingibt, dass man keine verkehrten Ideen hat, dass es in der Welt kein Wachstum und keine Verminderung gibt, und dass es auch keine Nichterkenntnis gibt. Wer einen solchen Glauben hat, wer diesen Weg genau verstanden hat, und wer dementsprechend übt, erfüllt die grundlegenden Bedingungen, die ihn zum Studium des Weges befähigen.

Die Methode besteht darin, dass man nicht mehr auf die Vernunft hört, die uns stets wegzieht auf den Weg unterscheidenden Denkens. So soll man die Anfänger gewöhnen und führen. Nachher entledigt man sich des Körpers und des Geistes und verzichtet vollständig auf die beiden Ideen Nichterkenntnis und Erwachen. Das ist die Art der Fortgeschrittenen.

Ganz allgemein kann man sagen, dass es sehr wenige sind, die daran glauben, dass sie sich auf dem Wege des Erwachten befinden. Wenn sie wirklich diesen Glauben haben, merken sie ganz von selbst, ob der Grosse Weg offen oder verschlossen ist. Sie erkennen dann auch den Ursprung von Nichterkennen und Erwachen.

Versuchen wir doch, die Vernunft auszuschalten ! Von zehn, die das tun, werden acht oder neun plötzlich den Buddha-Weg sehen [15].

Dōgen nennt zwei Stufen der Initiation. Die erste besteht darin, dass man aus der Vernunft aussteigt, und damit aus dem diskriminierenden, definierenden, stets binären, logischen, die Einheit verleugnenden Denken. « In der Welt ist es sehr selten mit dem Entweder-Oder getan » hat, meine ich, auch Goethe gesagt. Die Vernunft ist ein Dämon, der den Suchenden stets von der übergreifenden Wahrheit der Leerheit aller Dinge, der prajñā-pāramitā, abzuhalten versucht. Der Dämon wird verscheucht durch die « beruhigende Meditation », durch śamatha. – Darauf folgt die zweite Stufe. Sie entspricht der « Einsicht », vipaśyana. Man erkennt – dies Erkennen wird bezeichnenderweise als ein Glaubensakt beschrieben –, dass man von jeher auf dem Buddha-Weg war, dass man nicht anders kann, als ihn zu gehen. Das bedeutet, dass es ein binäres Denken eigentlich nicht gibt ; dass das, was uns die Vernunft vorgaukeln will, nämlich die angebliche Gültigkeit des Nichterkennens, d.h. des « normalen », sinnlich-vernünftigen, binären Welterkennens als Gegensatz zum « Erwachen », schon längst, schon immer und für immer, überwunden ist ; dass wir von jeher « Erwachte » waren, und jetzt eingeladen, diese unsere ewige Wahrheit zu verwirklichen : als « Erwachte », buddha, in prajñā-pāramitā zu leben. Verwirklichung wird Ereignis durch Hingabe an den Meister – obwohl das Ende des Zitates doch noch anzudeuten scheint, dass sie sich auch ohne die aktive Energie eines Meisters ereignen kann.

8. Abschluss

Ausgehend von der Seins-Weise eines Buddha, wie sie im alten Buddhismus (Dhammapada), erfahren und konzipiert wurde, nämlich als überweltlich/weltlich und unfassbar/fassbar, haben wir gesehen, wie später zwei wichtige Mahayana-Sutren dieses Buddha-Sein formalisiert haben, und zwar in voller Kontinuität mit dem Alten. Dieses spezifische Buddha-Sein, verstanden als ursprüngliches, wahres Sein jedes Menschen, haben grosse Autoritäten des Zen – wir haben Hui-neng, Lin-tsi und Dōgen befragt –, jeder auf seine besondere Weise, zu verwirklichen angeleitet. Etwas zugespitzt kann man sagen, Zen sei nichts anderes als der Versuch, das alte Buddha-Sein zu verwirklichen – ein Resultat, das freilich nicht sehr überrascht.

Im Laufe der Jahrhunderte, die seit der Tätigkeit der grossen Meister Lin-tsi und Dōgen vergangen sind, haben sich die von ihnen ausgegangenen Schulen Rinzai und Soto vielfach überschnitten und sind heutzutage nicht immer genau voneinander zu trennen. Ein Haupteinschnitt in der Entwicklung des Zen erfolgte im 20. Jh. durch die Propagierung, Verbreitung und Popularisierung des Zen im Westen, was zu mancherlei Adaptationen, Veränderungen – und Verwässerungen ! – führte. Östliche wie westliche Anhänger haben die Warnung Dōgens missachtet und hemmungslos buddhistische Zen-Erfahrung mit moderner und postmoderner Kultur vermischt, vor allem mit psychologischen Theorien [16]. Eine Folge dieser transkulturellen Bestrebungen ist, unter anderem, die Banalisierung des Zen als « nicht-gegenständliche Meditation ». Von prajñā-pāramitā ist in diesen Kreisen kaum mehr die Rede.

Hier stellen sich verschiedene wichtige Aufgaben, deren Schwierigkeit vielleicht den kühnen Wunsch, sie anzupacken, im Keim ersticken wird. Zum Beispiel gilt es zu prüfen, ob überhaupt authentischer buddhistischer Zen, nach dem Vorbild von Lin-tsi oder Dōgen, in der sich gegenwärtig bildenden materialistischen Weltzivilisation noch denkbar ist ? Sind, ganz allgemein, traditionsgebundene Formen von Spiritualität und Religion noch tragbar ? Werden sie nicht als « intolerant » verschrien ? Weiter muss man fragen nach dem Platz des authentischen buddhistischen Zen im Konzert (andere urteilen : im grossen Bazar) der Religionen und Spiritualitäten. Kann man authentischen Zen in Anspruch nehmen für christliche Praxis (was häufig geschieht) oder für andere Religionen ? Oder wird (muss ?) letzten Endes alles aufgehen in einem konturlosen verschwommenen Magma von allgemeiner « Spiritualität » ? Lautet das Ideal anders als « Ruhe, Stille, Heiterkeit » ? Motto : « Man muss zen bleiben » ?

Ein zufällig in der Schweiz weilender japanischer Kaufmann antwortete auf meine Frage nach dem Zen in Japan : « Zen ? das ist für Touristen ! ».


[1] Vgl. Etienne Lamotte, L'enseignement de Vimalakīrti. Louvain-Leuven, 1962. 317.

[2] Takaschi James Kodera, Dōgen's Formative Years in China. London and Henley, 1980. 126.

[3] Vgl. auch die schöne Vers-Übersetzung von R. Otto Franke, Dhamma-Worte. Dhammapada des südbuddhistischen Kanons. Jena, 1923.

[4] Ich zitiere den Oiriginaltext nach der Ausgabe von P. L. Vaidya, Mahayana-sūtra-saµgraha. Darbhanga, 1961. 75ff. Die chinesischen Übersetzungen gehen oft paraphrasierend vor.

[5] Vaidya (Anm. 4), 97.

[6] Die Formel entspricht genau derjenigen, die wir oben in Dhammapada 279 getroffen haben.

[7] Nach der deutschen Übersetzung von Raoul von Muralt (nach der englischen der Buddhist Society). Zürich, 1958. 37f.

[8] Nach ebda (Anm. 3). 45.

[9] Ich zitiere nach der französischen, eingehend kommentierten Übersetzung des hervorragenden Spezialisten Paul Demiéville: Entretiens de Lin-tsi, Paris, 1972. Die Seitenzahlen im Text verweisen auf diese Publikation.

[10] Übersetzung von Takashi James Kodera, in Dōgen's Formative Years in China, London and Henley, 1980. 117-140.

[11] Übersetzungen: Pierre Nakimovitch, Trésor de l'oeil de la Loi authentique. Genève, 1999. Kosen Nishiyama and John Stevens, A Complete Translation of the Shō bō gen zō. Sendai, 1975ff.

[12] Hee-Jin Kim, « The Reason of Words and Letters », Dōgen Studies, ed. by William R. LaFleur. The Kuroda Institute, 1985. 79.

[13] Takashi James Kudera (Anm. 2). 62.

[14] Hoang-Thî-Bich (Thich Man-da-la), Etude et traduction du Gakudôyôjin-Shû, Recueil de l'application de l'esprit à l'étude de la Voie, du Maître de Zen Dôgen. Genève, 1973. 51

[15] Hoang Thî Bich (Anm. 13). 170f.

[16] In dieser Hinscht ist die Schrift von Ernst Benz, ZEN in westlicher Sicht. Zen-Buddhismus - Zen-Snobismus. Weilheim/Oberbayern, 1962, noch immer lesens- und beherzigenswert.

 

 

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